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Totengleich

Totengleich

Titel: Totengleich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tana French
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Reichweite. Keine Spinnweben, nicht einmal ein Staubfilm auf der Rückwand des Nachttisches: Die Spurensicherung war vor mir da gewesen.
    Bevor ich mir Lexies blauen Pyjama anzog, riss ich den falschen Verband ab, löste das Mikro und verstaute den ganzen Kram unten in meinem Koffer. Irgendwo bekam Frank deswegen einen ausgewachsenen Wutanfall, aber das war mir egal; ich hatte meine Gründe.
    Am ersten Abend eines Undercovereinsatzes schlafen zu gehen ist etwas, das du niemals vergisst. Den ganzen Tag über warst du pure, konzentrierte Kontrolle, hast dich selbst genauso scharf und schonungslos beobachtet, wie alles und jeden um dich herum, aber sobald du am Abend allein auf einer fremden Matratze in einem Zimmer liegst, dessen Luft anders riecht, bleibt dir nichts anderes übrig, als die Hände zu öffnen und loszulassen, dich in den Schlaf und in das Leben eines anderen Menschen fallen zu lassen wie ein Kieselstein, der durch kühles, grünes Wasser sinkt. Selbst beim ersten Mal weißt du, dass genau in dieser Sekunde etwas Unwiderrufliches einsetzt, dass du am nächsten Morgen verändert aufwachen wirst. Ich musste nackt in diese Veränderung hineingehen, mit nichts aus meinem eigenen Leben am Körper, so wie die Kinder von Holzfällern in Märchen nur schutzlos das Zauberschloss betreten können, so wie die Geweihten in alten Religionen nackt in ihre Initiationsriten gingen.
    Ich fand eine schöne, illustrierte, mürbe alte Ausgabe von Grimms Märchen im Bücherregal und nahm sie mit ins Bett. Die anderen hatten sie Lexie letztes Jahr zum Geburtstag geschenkt: auf dem Vorsatzblatt stand mit Tinte in schräger, fließender Schrift – Justins, wie ich mir fast sicher war – »1 / 3/04. Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Du junges Mädchen (wann wirst Du endlich erwachsen??). Alles Liebe«, und die vier Namen.
    Ich setzte mich ins Bett, das Buch auf den Knien, aber ich konnte nicht lesen. Ab und an drangen die schnellen, gedämpften Gesprächsrhythmen aus dem Wohnzimmer nach oben, und draußen vor meinem Fenster war der Garten lebendig: Wind in den Blättern, ein bellender Fuchs und eine Eule auf der Jagd, überall Geraschel und Rufe und Gewühle. Ich saß da, blickte mich in Lexies fremdem Zimmer um und lauschte.
    Kurz vor Mitternacht knarrte die Treppe, und es klopfte leise an meiner Tür. Ich sprang fast an die Decke, griff nach meinem Koffer, um mich zu vergewissern, dass der Reißverschluss ganz zu war, und rief: »Herein.«
    »Ich bin’s«, sagte Daniel oder Rafe oder Justin, dicht hinter der Tür, so leise, dass ich nicht sagen konnte, wer von den dreien. »Wollte nur gute Nacht sagen. Wir gehen jetzt schlafen.«
    Mein Herz hämmerte. »Nacht«, rief ich. »Schlaft gut.«
    Stimmen flogen die langen Treppen rauf und runter, ohne Herkunft, und verschwammen wie ein Zikadenchor, sanft wie Finger in meinem Haar. Nacht , sagten sie, gute Nacht, schlaf gut. Willkommen zu Haus, Lexie. Ja, willkommen zu Haus. Gute Nacht. Träum was Schönes.

    Ich habe einen leichten Schlaf, und ich habe gute Ohren. Irgendwann in der Nacht wurde ich wach, schlagartig und vollständig. Auf der anderen Seite des Flurs, in Daniels Zimmer, flüsterte jemand.
    Ich hielt den Atem an, aber die Türen waren dick, und das Einzige, was ich ausmachen konnte, war Gezischel im Dunkeln. Keine Worte, keine Stimmen. Ich schob den Arm unter der Bettdecke hervor, ganz vorsichtig, und tastete nach Lexies Handy auf dem Nachtisch: 3.17 Uhr.
    Lange Zeit folgte ich der schwachen doppelten Flüsterspur, die sich zwischen den schrillen Fledermausrufen und dem Rauschen des Windes hindurchwand. Es war zehn Minuten vor vier, als ich das langsame Knarzen eines Türknaufs hörte, der gedreht wurde, und dann das leise Klicken, als Daniels Tür sich schloss. Der Hauch eines Geräusches auf dem Flur, kaum wahrnehmbar, wie ein Schatten, der sich im Dunkeln bewegt, dann nichts.

6
    Schritte weckten mich, die nach unten polterten. Ich hatte geträumt, irgendetwas Düsteres und Chaotisches, und ich brauchte eine hektische Sekunde, bis ich meine Gedanken entwirrt hatte und wusste, wo ich war. Ich wollte nach meiner Pistole greifen, doch sie lag nicht neben meinem Bett, und ich geriet in Panik, als es mir einfiel.
    Ich setzte mich auf. Offenbar war doch nichts vergiftet gewesen; ich fühlte mich gut. Der Duft von Gebratenem drang unter der Tür hindurch, und ich konnte den flotten Morgenrhythmus von Stimmen hören, irgendwo weit unten. Verdammt: Ich hatte nicht

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