Totengrund
Zuckerguss überzog. Maura ging voran, die dunkle, stille Häuserreihe entlang.
»Willst du mir vielleicht einen Tipp geben?«, fragte er.
»Ich wollte in Grace s Gegenwart nicht darüber reden. Aber ich habe etwas entdeckt.«
»Was?«
»Es ist in diesem Haus.« Sie blieb vor der Veranda stehen und starrte zu den schwarzen Fenstern hinauf, die kein Sternenlicht, keinen Mondschein reflektierten, als ob die Dunkelheit dahinter jeden noch so kleinen Lichtstrahl verschluckte. Sie stieg die Stufen empor und stieß die Tür auf. Die Lampe warf einen schwachen Lichtkegel um sie herum, als sie durch das Wohnzimmer gingen. Am äußersten Rand dieses Kreises waren im Halbdunkel die Silhouetten der Möbel auszumachen, und dahinter funkelte etwas im Widerschein – der Bilderrahmen. Der dunkelhaarige Mann auf dem Porträt starrte zur Decke, und im trüben Licht wirkten seine Augen fast lebendig.
»Das hier ist mir als Erstes aufgefallen«, sagte sie und deutete auf den Vogelkäfig in der Ecke.
Doug trat näher und starrte durch die Gitterstäbe auf den Kanarienvogel, der auf dem Käfigboden lag. »Noch ein totes Haustier.«
»Genau wie der Hund.«
»Wer lässt denn einen Kanarienvogel einfach verhungern?«
»Dieser Vogel ist nicht verhungert«, sagte Maura.
»Was?«
»Schau, da sind jede Menge Körner.« Sie hielt die Lampe dicht an den Käfig, sodass er den mit Vogelfutter angefüllten Spender sehen konnte, den gefrorenen Inhalt des Wasserbehälters. »In diesem Haus standen auch alle Fenster offen«, sagte sie.
»Er ist erfroren.«
»Und das ist noch nicht alles.« Sie ging den Flur entlang und deutete auf den dunklen Streifen, der sich über die Fichtenholzdielen zog, wie mit einem breiten Pinsel gezogen. Im trüben Kerzenschein wirkte der Fleck mehr schwarz als braun.
Doug starrte die Schleifspur an, doch er versuchte gar nicht erst, eine Erklärung zu finden. Er sagte gar nichts, folgte nur still der immer breiter werdenden Spur, bis sie ihn zum Fuß der Treppe führte. Dort blieb er stehen und fixierte die getrocknete Blutlache zu seinen Füßen.
Maura hob die Lampe hoch, in deren Licht dunkle Spritzer auf den Stufen sichtbar wurden. »Die Blutflecken fangen ungefähr in der Mitte der Treppe an«, erklärte sie. »Jemand ist diese Treppe hinuntergefallen und hat sich dabei an den Stufen angeschlagen. Und hier ist er oder sie liegen geblieben.« Sie senkte die Lampe und beleuchtete die getrocknete Pfütze am Fuß der Treppe. Da blitzte etwas in dem Blut auf, ein heller Faden, den sie beim ersten Mal übersehen hatte. Sie ging in die Hocke und sah, dass es ein langes blondes Haar war, das zur Hälfte in dem getrockneten Blut festklebte. Eine Frau. Eine Frau, die hier gelegen hatte, während ihr Herz noch geschlagen hatte, mindestens noch einige Minuten lang. Lange genug, um einen See von Blut aus ihrem Körper zu pumpen.
»Ein Unfall?«, meinte Doug.
»Oder Mord.«
Im Dämmerlicht sah sie, wie sein Mund sich zu einem angedeuteten Lächeln verzog. »Da spricht die Rechtsmedizinerin. Was ich hier sehe, ist nicht unbedingt der Tatort eines Verbrechens. Sondern einfach nur Blut.«
»Eine Menge Blut.«
»Aber keine Leiche. Nichts, was uns verraten würde, was genau passiert ist.«
»Die fehlende Leiche ist genau das, worüber ich mir Gedanken mache.«
»Ich würde mir viel mehr Gedanken machen, wenn sie noch da läge.«
»Wo ist sie? Wer hat sie weggebracht?«
»Die Familie? Vielleicht haben sie sie ins Krankenhaus gefahren. Das würde erklären, warum der Kanarienvogel vergessen wurde.«
»Eine verletzte Frau würde man tragen , Doug. Sie hätten sie kaum wie einen Tierkadaver über den Boden geschleift. Aber wenn es jemand war, der eine Leiche verschwinden lassen wollte …«
Sein Blick folgte den Schleifspuren bis dorthin, wo sie sich im Dunkel des Flurs verloren. »Sie sind nicht mehr zurückgekommen, um das Blut wegzuwischen.«
»Vielleicht hatten sie es vor«, sagte sie. »Vielleicht konnten sie nicht ins Tal zurück.«
Er sah sie an. »Der Schneesturm ist ihnen dazwischengekommen.«
Sie nickte. Die Flamme in der Lampe erzitterte, wie von einem unsichtbaren Atemhauch erfasst. »Arlo hatte recht. Irgendetwas Schreckliches ist in diesem Dorf passiert, Doug. Etwas, das Blutflecken und tote Haustiere in leeren Häusern hinterlassen hat.« Ihr Blick ging zum Boden. »Und Spuren. Spuren, die eine Geschichte erzählen. Wir hoffen die ganze Zeit, dass jemand zurückkommt und uns findet.« Sie sah ihn
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