Totengrund
Toten erwarten nicht, dass man Small Talk macht, sich ihre endlosen Klagen anhört oder zusieht, wie sie sich vor Schmerzen winden. Die Toten haben alle Qualen hinter sich, und sie erwarten keine Wunder, die man nicht vollbringen kann. Sie warten geduldig und klaglos, bis man mit ihnen fertig ist, ganz gleich, wie lange es dauert.
Als sie nun auf Arlos schmerzverzerrtes Gesicht blickte, dachte sie: Es sind nicht die Toten, die mich nervös machen, sondern die Lebenden.
Dennoch blieb sie an seiner Seite und hielt seine Hand, während draußen der Morgen dämmerte und seine Fieberanfälle allmählich nachließen. Er atmete jetzt leichter, und Schweißperlen glitzerten auf seinem Gesicht.
»Glaubst du an Geister?«, fragte er leise und fixierte sie mit fiebrig glänzenden Augen.
»Wieso fragst du?«
»Wegen deiner Arbeit. Wenn je irgendjemand einen Geist gesehen hat, dann jemand wie du.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie einen gesehen.«
»Also glaubst du nicht daran.«
»Nein.«
Er starrte an ihr vorbei, den Blick auf etwas gerichtet, das sie nicht sehen konnte. »Aber sie sind hier, in diesem Zimmer. Sie beobachten uns.«
Sie berührte seine Stirn. Seine Haut fühlte sich bereits kühler an; das Fieber ging zurück. Dennoch war es offensichtlich, dass er delirierte; sein Blick irrte im Zimmer umher, als folgte er den Bewegungen der Gespenster, die dort vorüberglitten.
Inzwischen war es hell genug, um sein Bein anschauen zu können.
Arlo protestierte nicht, als sie die Decke zurückschlug. Er war von der Taille abwärts nackt, sein eingeschrumpfter Penis verlor sich fast in einem Nest aus braunen Schamhaaren. In der Nacht hatte er eingenässt, und die Decken, die sie unter ihn geschoben hatten, waren durchtränkt. Sie zog die Schichten von Verbandmull von seiner Wunde ab, und ein Laut des Erschreckens entwich ihrer Kehle, ehe sie ihn unterdrücken konnte. Es war erst sechs Stunden her, dass sie die Wunde zuletzt untersucht hatte, im Licht der Petroleumlampe. Jetzt, im gnadenlos grellen Schein des stärker werdenden Tageslichts, konnte sie die schwarzen Wundränder sehen, das aufgedunsene Gewebe. Und der üble Geruch faulenden Fleischs stieg ihr in die Nase.
»Sag mir die Wahrheit«, flüsterte Arlo. »Ich will es wissen. Werde ich sterben?«
Sie suchte verzweifelt nach beruhigenden Worten, setzte an zu einer Antwort, an die sie selbst nicht wirklich glaubte. Doch ehe sie etwas sagen konnte, legte sich plötzlich eine Hand auf ihre Schulter, und sie drehte überrascht den Kopf.
»Natürlich wirst du nicht sterben«, sagte Doug, der direkt hinter ihr stand. »Weil ich das nicht zulassen werde, Arlo. Ganz egal, wie viel Stress und Ärger du mir machst, Alter.«
Arlo brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Du hast schon immer viel Scheiße erzählt, Mann«, flüsterte er und schloss die Augen.
Doug kauerte sich hin und starrte das Bein an. Er musste nichts sagen; Maura konnte an seiner Miene ablesen, dass er in diesem Moment dasselbe dachte wie sie: Sein Bein verfault vor unseren Augen.
»Gehen wir nach nebenan«, sagte Doug.
Sie zogen sich in die Küche zurück, außer Hörweite der anderen. Die Dämmerung war einem blendend hellen Morgen gewichen, und im grellen Schein, der durch das Fenster fiel, wirkte Dougs Gesicht wie ausgebleicht; jedes graue Barthaar auf seinem stoppligen Kinn trat deutlich hervor.
»Ich habe ihm heute Morgen Amoxillin gegeben«, sagte sie. »Nützen wird es wahrscheinlich wenig.«
»Was er braucht, ist eine Operation.«
»Das denke ich auch. Willst du es übernehmen, ihm das Bein abzuschneiden?«
»Mein Gott.« Er begann, in der Küche auf und ab zu gehen. »Eine Arterie abzubinden, ist eine Sache. Aber eine Amputation …«
»Selbst wenn wir die Amputation durchführen könnten , würde das nicht reichen. Er hat bereits eine Blutvergiftung. Er braucht massive intravenöse Gaben von Antibiotika.«
Doug drehte sich zum Fenster um und blinzelte, als das gleißende Sonnenlicht, das von der vereisten Schneedecke reflektiert wurde, seine Augen traf. »Ich habe noch volle acht Stunden Tageslicht, vielleicht auch neun. Wenn ich sofort losgehe, könnte ich es vor Einbruch der Dunkelheit bis hinunter ins Tal schaffen.«
»Du willst mit den Skiern losziehen?«
»Es sei denn, du hättest eine bessere Idee.«
Sie dachte an Arlo, der schwitzend und zitternd nebenan lag, mit einem aufgedunsenen Bein und einer Wunde, die langsam vor sich hin faulte. Sie dachte an die
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