Totengrund
die mit Urin durchtränkten Handtücher wechseln musste, auf denen er lag, aber das war gut so. Sollte er aufhören, Urin zu produzieren, dann wüsste sie, dass der septische Schock eingesetzt hatte. Das wäre sein Todesurteil.
Aber vielleicht ist er ohnehin nicht mehr zu retten, dachte sie, während sie zusah, wie er die zwei letzten Antibiotika-Kapseln schluckte. Gegen die Infektion, die jetzt in seinem Körper wütete, war Amoxicillin kaum mehr als ein magischer Zauber. Schon konnte sie den beginnenden Wundbrand riechen, konnte sehen, wie der Rand des nekrotischen Gewebes an seiner Wade unaufhaltsam vorrückte. Noch ein Tag, allenfalls zwei, und sie hätte keine Wahl mehr, wenn sie sein Leben retten wollte.
Sie würde ihm das Bein abnehmen müssen.
Kann ich mich wirklich dazu durchringen, dieses Bein ohne Betäubung zu amputieren? Sie war mit der Anatomie vertraut. Sie könnte sich die nötigen Instrumente in Küchen und Garagen zusammensuchen. Im Grunde brauchte sie nur scharfe Messer und eine sterilisierte Säge. Es lag nicht an den mechanischen Details der Amputation, dass bei dem Gedanken daran ihre Hände schwitzten und ihr Magen sich zusammenkrampfte. Es waren die Schreie. Sie malte sich aus, wie sie erbarmungslos den Knochen durchsägte, während der Patient sich vor Schmerzen wand und sich die Seele aus dem Leib schrie. Sie sah die bluttriefenden Messer vor sich. Und während der ganzen Prozedur würde sie sich darauf verlassen müssen, dass Elaine und Grace Arlo festhielten.
Du musst bald Hilfe bringen, Doug. Denn ich glaube nicht, dass ich das über mich bringen werde. Ich kann diesen Mann nicht so quälen.
»Tut so weh«, flüsterte Arlo. »Brauch mehr Tabletten.«
Sie kniete sich neben ihn. »Ich fürchte, wir haben das Percocet aufgebraucht, Arlo«, sagte sie. »Aber ich habe noch Tylenol.«
»Hilft nicht.«
»Und Codein ist unterwegs. Elaine ist rauf zum Jeep gegangen, um nach ihrer Handtasche zu suchen. Sie sagt, sie hat da drin eine Flasche Codein; das wird dir reichen, bis Hilfe eintrifft.«
»Wann?«
»Bald. Vielleicht schon heute Abend.« Sie sah zum Fenster und stellte fest, dass es schon Nachmittag war. Doug war gestern Morgen aufgebrochen. Inzwischen musste er unten im Tal angelangt sein. »Du kennst ihn doch. Wahrscheinlich wird er im Triumphzug hier aufkreuzen, mit Fernsehkameras und allem Drum und Dran.«
Arlo lachte müde. »Ja, das würde zu unserem Doug passen. Unter einem Glücksstern geboren. Der schafft es immer wieder, locker durchs Leben zu rauschen, ohne auch nur einen Kratzer abzukriegen, während ich …« Er seufzte. »Ich schwöre, wenn ich das hier überlebe, verlasse ich mein Haus nie mehr.«
Die Haustür flog auf, und Elaine kam hereingestapft. »Wo ist Grace?«, fragte sie.
»Sie ist nach draußen gegangen«, antwortete Maura.
Elaine sah Grace s Rucksack in der Ecke liegen. Sie bückte sich und zog den Reißverschluss auf.
»Was tust du da, Elaine?«
»Ich kann meine Handtasche nicht finden.«
»Du hast doch gesagt, du hättest sie im Jeep liegen lassen.«
»Ich dachte auch, dass sie dort wäre, aber Doug sagte, er hätte sie nirgendwo gesehen. Ich habe schon die ganze Straße abgesucht, weil ich dachte, vielleicht ist sie ja irgendwo in den Schnee gefallen.« Sie begann, den Rucksack zu durchwühlen und den Inhalt auf dem Boden zu zerstreuen – Grace s iPod, ihre Sonnenbrille, ein Sweatshirt, ein Handy. Frustriert drehte sie den Rucksack um und schüttelte ihn. Ein paar Münzen fielen klirrend heraus. »Wo ist meine verdammte Handtasche?«
»Glaubst du wirklich, dass Grace sie genommen haben könnte?«
»Ich kann sie nirgends finden. Da muss das Mädchen dahinterstecken.«
»Warum sollte sie das tun?«
»Sie ist ein Teenager. Wer begreift schon, was in einem Teenager vor sich geht?«
»Bist du sicher, dass du sie nicht irgendwo im Haus hast liegen lassen?«
»Ganz sicher.« Entnervt feuerte Elaine den leeren Rucksack in die Ecke. »Ich weiß, dass ich sie im Jeep bei mir hatte, als wir den Berg hinaufgefahren sind. Aber nach dem Unfall waren wir alle in Panik. Ich war ganz auf Arlo konzentriert. Ich weiß noch, als ich die Tasche das letzte Mal gesehen habe, lag sie auf dem Rücksitz neben Grace.« Ihr Blick streifte durchs Zimmer, auf der Suche nach möglichen Verstecken, in denen ihre Handtasche sich verbergen könnte. »Sie ist die Einzige, die Gelegenheit hatte, sie an sich zu nehmen. Du bist in die Siedlung hinuntergelaufen, um den Schlitten
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