Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Totengrund

Totengrund

Titel: Totengrund Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tess Gerritsen
Vom Netzwerk:
kniete sich neben Arlo und zog seine Decke zurecht. »Du hast nur schlecht geträumt. Das Fieber lässt dich Dinge sehen, die gar nicht existieren.«
    »Ich hab ihn mir nicht eingebildet.«
    »Niemand außer dir kann ihn sehen. Es sind diese Schmerztabletten. Schatz, du bist einfach verwirrt.«
    Wieder versuchte Arlo zu schlucken, doch sein Mund war ausgetrocknet, und er brachte es nicht fertig. »Er war da«, flüsterte er. »Hab ihn gesehen.«
    »Du musst mehr trinken«, sagte Maura. Sie füllte einen Becher mit Wasser und hielt ihn Arlo an die Lippen. Er schaffte nur ein, zwei kleine Schlucke, dann musste er husten, und das Wasser lief ihm übers Kinn. Kraftlos schob er den Becher weg und sank stöhnend aufs Kissen zurück. »Genug.«
    Maura stellte den Becher ab und betrachtete Arlo. Er hatte seit Stunden nicht mehr Wasser gelassen, und das Geräusch seines Atems hatte sich verändert. Es war jetzt rau und rasselnd, ein Zeichen dafür, dass beim Einatmen Flüssigkeit in die Lunge gelangte. Wenn seine Kräfte noch mehr nachließen, wäre es gefährlich, ihn zum Trinken zu zwingen, doch die Alternative war, seinen Körper weiter austrocknen zu lassen. Und beides, dachte sie, kann ihn umbringen.
    »Sag ’ s mir noch einmal«, forderte sie ihn auf. »Was du gesehen hast.«
    »Gesichter.«
    »Von Menschen hier im Zimmer?«
    Wieder schöpfte er rasselnd Atem. »Und am Fenster.«
    Steht da in diesem Moment jemand?
    Ein eisiger Hauch strich ihr über den Rücken. Maura fuhr herum und blickte zum Fenster, doch hinter der Scheibe war nur undurchdringliche Dunkelheit. Kein geisterhaftes Gesicht, keine teuflischen Augen, die sie anstarrten.
    Elaine brach in höhnisches Gelächter aus. »Seht ihr? Jetzt verliert ihr schon beide den Verstand! Allmählich glaube ich, dass ich die Einzige bin, die hier in diesem Haus noch ihre fünf Sinne beisammenhat.«
    Maura trat ans Fenster. Draußen war die Nacht wie ein dichter Samtvorhang, der alle Geheimnisse verhüllte, die in diesem Tal lauern mochten. Doch ihre Fantasie ergänzte die Einzelheiten, die sie nicht sehen konnte; malte das Grauen mit blutigen Farben aus. Irgendetwas hatte die früheren Bewohner der Siedlung in die Flucht getrieben, so überstürzt, dass sie unverschlossene Haustüren, offene Fenster und unberührte Mahlzeiten zurückgelassen hatten. Etwas so Furchtbares, dass sie ihre geliebten Haustiere hatten erfrieren und verhungern lassen. War es noch hier, dieses Etwas, das die Menschen aus diesem Ort vertrieben hatte? Oder war hier gar nichts außer ihren eigenen dunklen Fantasien, geboren aus Angst und Isolation?
    Es ist dieser Ort. Er spielt mit unserem Verstand, treibt uns in den Wahnsinn.
    Sie dachte an die gnadenlose Serie von Katastrophen, die dazu geführt hatte, dass sie hier festsaßen. Der Schneesturm, die falsche Abzweigung. Das Manöver, bei dem der Suburban im Graben gelandet war. Es war, als seien sie dazu verdammt, ihr Leben hier zu beschließen, als ahnungslose Opfer in die Falle gelockt, die sich Kingdom Come nannte. Jeder Fluchtversuch würde nur noch weiteres Unglück über sie bringen. Hatte Arlos Unfall nicht bewiesen, wie sinnlos ein solches Unterfangen war? Und wo war Doug? Am Morgen waren es zwei Tage, seit er aus dem Tal aufgebrochen war. Inzwischen hätte längst Hilfe eintreffen müssen.
    Was bedeutete, dass er es nicht geschafft hatte. Auch ihn hatte Kingdom Come nicht entkommen lassen.
    Sie schüttelte sich und wandte sich vom Fenster ab, plötz lich angewidert von sich selbst, weil sie sich zu solchen übernatürlichen Spekulationen hatte hinreißen lassen. So konnten Stress und Anspannung selbst dem logischsten Verstand zusetzen: Er schuf dann Monster, die gar nicht existierten.
    Aber ich weiß, dass ich diesen Abdruck im Schnee gesehen habe. Und Arlo hat ein Gesicht am Fenster gesehen.
    Sie ging zur Tür, nahm den Stuhl weg, den sie unter die Klinke geklemmt hatte, und schob den Riegel zurück.
    »Du gehst raus ?«
    »Warum nicht? Du bist doch diejenige, die glaubt, dass ich den Verstand verliere. Du behauptest hartnäckig, dass da draußen nichts ist.«
    »Was hast du vor?«
    »Arlo hat ein Gesicht am Fenster gesehen. Es hat seit drei Tagen nicht mehr geschneit. Wenn da draußen jemand gestanden hat, sind die Fußspuren vielleicht noch zu sehen.«
    »Würdest du bitte im Haus bleiben? Du musst mir nichts beweisen.«
    »Ich will es mir selbst beweisen.« Maura nahm die Petroleumlampe und griff nach dem Türknauf. Während ihre Hand

Weitere Kostenlose Bücher