Totenhauch
kam die Recherche. Die wichtigste Voraussetzung für eine erfolgreiche Sanierung lag immer in den Archiven. Wenn kein Register und keine Landkarte zu finden waren, galt es, die Sterbeurkunden des Countys, die Kirchenbücher und alte Familienstammbücher zu durchforsten, und das dauerte manchmal Wochen, wenn nicht gar Monate. Ich suchte so lange, bis ich etwas fand, egal, wie lange es dauerte, denn es gab nichts Einsameres als ein Grab ohne Namen.
Ich scrollte durch die einzelnen JPEG s, suchte nach den Grabmalen und anderen Orientierungspunkten, die ich im Gedächtnis behalten hatte, und fand schließlich die Grabstelle, in der man das Opfer gefunden hatte. Ich vergrößerte das Foto auf Bildschirmgröße und zoomte es heran. Sorgfältig ging ich miteiner Lupe über das Grab, nahm jedes einzelne Pixel genauestens in Augenschein.
Da ich keinen Hinweis finden konnte, dass die Erde umgegraben worden war, als ich das Foto gemacht hatte, kam ich zu dem Schluss, dass der Mörder die Leiche dort vergraben hatte, nachdem ich den Friedhof am späten Freitagnachmittag verlassen hatte, und vor dem Sturm, der um Mitternacht einsetzte.
Ein interessantes Detail fiel mir allerdings auf.
Ich beugte mich vor, rieb gedankenverloren mit dem Daumen über den geschliffenen Stein, den ich an einer Kette um den Hals trug, und sah mir das Bild noch einmal ganz genau an.
Der Grabstein stand mit der Rückseite zum Grab. Das war an und für sich nicht so ungewöhnlich. Manche Familien baten darum, dass es so angelegt wurde, damit man die Inschrift lesen konnte, ohne auf das Grab treten zu müssen. Aber ich hatte keine Ahnung, ob die Lage des Grabsteins irgendetwas damit zu tun hatte, dass der Mörder ausgerechnet dieses Grab ausgesucht hatte, um sich der Leiche zu entledigen.
Ich winkelte ein Bein an und setzte mich darauf und betrachtete das nächste Foto, das die Vorderseite des Grabsteins zeigte. Ich schrieb den Namen, die Inschrift, das Geburtsjahr und das Todesjahr auf einen gelben Notizblock und notierte, was auf dem Stein abgebildet war – der Ast einer Trauerweide, der umschlungen war von den Ranken einer Prunkwinde, und eine Feder, die auf das Grab niederschwebte.
Als Nächstes öffnete ich die zu der Fotodatei gehörige Dokumentendatei und ging die Informationen durch, die ich über die Verstorbene gesammelt hatte, eine gewisse Mary Frances Pinckney. Sie war 1887 im Alter von vierzehn Jahren an Scharlach gestorben.
Nicht weiter ungewöhnlich. Ich nahm wieder meine Notizen zur Hand und las noch einmal die Grabinschrift:
D ie Mitternachtssterne weinen
Über ihrem stillen Grab.
Tot und doch träumend,
Für dieses Kind es keine Rettung gab.
Der Vers löste eine gewisse Schwermut in mir aus, doch es war nichts Besonderes an dem Ganzen. Sehr wahrscheinlich war es reiner Zufall gewesen, dass der Mörder sich ausgerechnet dieses Grab ausgesucht hatte. Vielleicht hatte er es auch getan, weil es weit genug entfernt lag von den Friedhofsmauern und von den Toren, sodass es nicht sofort zu sehen war von jemandem, der zufällig vorbeispazierte.
Ich saß noch sehr lange da, betrachtete die Fotografien und zerbrach mir den Kopf über meinen gestohlenen Aktenkoffer. Zerbrach mir den Kopf über meine Reaktion auf John Devlin und fragte mich, ob die Regeln meines Vaters vielleicht auf die Probe gestellt wurden, auf irgendeine Weise, die ich noch nicht verstand. Vor allem aber machte ich mir Gedanken über die tote Frau, die man in einem alten Grab auf dem Friedhof von Oak Grove anonym vergraben, einfach dort zurückgelassen hatte, ohne die letzte Ehre einer Beisetzung oder eines Grabsteins. Dass man sie so herzlos verscharrt hatte, störte mich fast ebenso sehr wie der Mord selbst. Es zeugte von Gewissenlosigkeit, von einem Mangel an Menschlichkeit, der große Furcht in mir heraufbeschwor.
Er war irgendwo da draußen, dieses Ungeheuer. Er pirschte durch die Straßen, und vielleicht hatte er schon die Witterung seines nächsten Opfers aufgenommen.
Die Witterung seines nächsten Opfers …
Da ich mich so auf die Fotos konzentriert hatte, war mir der Duft kaum aufgefallen, der in mein Arbeitszimmer geströmt war.
Jetzt schloss ich die Augen und sog ihn in mich auf.
Kein Friedhofsflieder, sondern Jasmin …
So süß und durchdringend, dass ich mich einen Moment lang fragte, ob ich vielleicht ein Fenster offen gelassen hatte. Überall im Garten wuchsen die Sträucher, und nachts wurde der pappsüße Geruch manchmal
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