Totenhauch
weitgereist, doch es war ihr Gespür für Tradition und vornehme Eleganz, das ihnen erlaubte, sich trotz ihrer Herkunft aus der Mittelklasse unter die feine Gesellschaft zu mischen.
Mein Vater dagegen war in den Bergen von North Carolina aufgewachsen. Ein Hinterwäldler in den Augen der Charlestoner Oberschicht, die südlich der Broad Street lebte. Im Charleston der Sechzigerjahre, in dem noch Rassentrennung herrschte, stand Papa aufgrund der Tatsache, dass er aus den Blue Ridge Mountains stammte, nur ein, zwei Stufen über den Schwarzen, die ihm im Garten von St. Michael’s zur Hand gegangen waren, wo er vor der Heirat meiner Eltern als Gärtner gearbeitet hatte.
Ebenso wie meine Großeltern mütterlicherseits hatte auch ich eine akademische Ausbildung und war durch die Welt gereist. Meinen Bachelor in Anthropologie machte ich im Alter von gerade mal zwanzig Jahren an der University of South Carolina – was hatte ich auch schon zu tun außer studieren? –, und meinen Master in Archäologie erwarb ich an der University of North Carolina in Chapel Hill. Ich war Mitglied diverser Denkmal- und Landschaftsschutzverbände wie dem American Institute for the Conservation of Historic and Artistic Works , der Southeast Regional Conservation Association , der Association for Gravestone Studies und der Alliance for Historic Landscape Preservation . Ich hatte meine eigene Firma, manche Leute hielten mich für eine Expertin in meinem Arbeitsfeld, und dank dieses YouTube-Videos, das sich verbreitet hatte wie ein Virus, war ich unter den Taphophilen und den Geisterjägern von Charleston eine kleine Berühmtheit geworden. Doch trotz meiner Erfolge und meinem momentanen Ruhm gab es in der allmählich aussterbenden Villen-Dynastie von Charleston immer noch Menschen, die mich wegen der Herkunft meines Vaters nie akzeptieren würden.
Doch das störte mich nicht im Geringsten.
Ich war stolz auf Papas Herkunft, aber ich fragte mich immer noch, wie er und meine Mutter es bei der sozialen Kluft, die zwischen ihnen bestanden hatte, überhaupt geschafft hatten, einander zu begegnen und sich ineinander zu verlieben. Meine diesbezüglichen Fragen an die beiden waren in all den Jahren nur ganz vage oder überhaupt nicht beantwortet worden.
Der einzige Hinweis, den ich je gefunden hatte, stammte aus einer zufällig aufgeschnappten Unterhaltung zwischen meiner Mutter und Tante Lynrose, als diese uns damals in Trinity besuchte, der kleinen Stadt im Norden von Charleston, in der wir wohnten, als mein Vater als Verwalter der County-Friedhöfe arbeitete. Jeden Abend setzten sich die beiden Schwestern auf die Veranda und tranken süßen Tee aus hohen, geeisten Gläsern, während sich um sie herum die Dämmerung senkte, so sacht und so weich wie die Seidenschals, mit denen sie sich das Haar zurückgebunden hatten.
Das Kinn auf die Fensterbank gestützt, saß ich da und hörte ihnen zu durch die geöffneten Fenster des Salons, wie gebannt vom melodischen Klang ihrer wundervoll gedehnten Sprache. Als ich älter wurde, lernte ich, den Einfluss des hugenottischen Französisch und des kreolischen Gullah herauszuhören, die den Akzent von Charleston so unverwechselbar machen. Meine Mutter hatte sich nie ganz abgewöhnt, die Vokale zu dehnen, und durch ihre fremdartige Sprechweise wirkte sie auf ein Kind, das so abgeschieden aufwuchs wie ich, regelrecht glamourös und geheimnisvoll.
Eines Abends, als ich dasaß und die beiden durch das Fenster belauschte, nahm ich einen Anflug von Traurigkeit in Mamas Stimme wahr, als sie und meine Tante in Erinnerungen schwelgten.
Tante Lynrose hatte Mamas Hand genommen und tätschelte sie.
»Die Dinge kommen nicht immer so, wie wir es geplant haben, aber wir müssen das Beste machen aus dem, was wir haben. Du hast ein gutes Leben, Etta. Ein hübsches Heim und einen hart arbeitenden Ehemann, der dich liebt. Und vergiss nicht, was für ein Geschenk Amelia ist. Nach all den entsetzlichen Fehlgeburten …«
»Ein Geschenk? Ich frage mich manchmal …«
»Etta.« Ein leichter Tadel schwang im Ton meiner Tante mit. »Warum sollte man sich mit Dingen befassen, die man ohnehin nicht ändern kann? Denk daran, was Mama immer gesagt hat: Es kommt nichts dabei heraus, wenn man in der Vergangenheit lebt.«
»Es ist nicht die Vergangenheit, die mir Sorgen macht«, murmelte meine Mutter.
Sie hatten schon längst das Thema gewechselt, da saß ich immer noch am Fenster, verängstigt und allein, ohne dass ich wusste,
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