Totenhauch
zerbrochene Kette zeigte, die von einer körperlosen Hand gehalten wurde. Eine zerbrochene Kette, eine zerbrochene Familie.
Ich las die letzten beiden Zeilen des Epitaphs noch einmal:
Die Fesseln gehen auf …
Und nun gesegnete Ruh’.
Am unteren Ende der Gedenktafel befand sich noch ein Symbol. Ich musste den Kopf fast auf den Fußboden legen, damit ich es sehen konnte. Drei Mohnblumen, die von einem Band zusammengehalten wurden: das Symbol für ewigen Schlaf.
Noch einmal las ich den Vers und scheuchte dabei geistesabwesend eine Fliege weg, die mir vor dem Gesicht herumschwirrte. Sie flog auf eine Ecke der Gedenktafel und schlüpfte durch eine Ritze in der Tür der Gruft. Angewidert sah ich, wie eine weitere Fliege hineinkroch. Und dann noch eine und noch eine …
Hastig rutschte ich zurück und schlug mir wie wild auf die Haare.
Devlin sah mich und kam zu mir. »Alles in Ordnung mit Ihnen?«
»Ich hasse Fliegen.«
»Was?«
»Sehen Sie sie denn nicht? Es müssen Dutzende sein.«
Er kniete sich neben mich, und ich zeigte mit dem Finger auf die Steinplatte, wo mehrere hingeflogen waren. Eine nach der anderen verschwand in dem Spalt.
»Wo kommen die bloß her?«, fragte ich und schüttelte sie immer noch aus meinen Haaren.
»Die bessere Frage ist, wo fliegen sie hin?«, murmelte Devlin, griff in seine Hosentasche und holte ein Taschenmesser heraus. Er klemmte die Klinge unter die Kante der Gedenktafel und hebelte die Tür auf. Dann legte er sich flach auf den Boden, um in die Grabkammer hineinsehen zu können.
»Sehen Sie irgendwas? Eine Leiche kann da nicht drin sein.« Ich hatte beinahe Angst vor seiner Antwort.
»Da ist auch keine Leiche, aber ich glaube, ich kann weiter hinten etwas sehen. Ich brauche eine Taschenlampe.«
»Ich habe eine in meiner Tasche.« Mühsam richtete ich mich auf. »Warten Sie einen Moment. Ich hole sie schnell.«
Als ich nach draußen trat, stand die Sonne bereits tief und warf ihr blutrotes Licht durch die Bäume und über die Gräber. Die Luft roch nach Sumpf und nach Pinien und Geißblatt und nach dem, was über allen Friedhöfen hing, nach dem sanften Duft der Sterblichkeit.
Es war still draußen, obwohl ich mir einbildete, in der Ferne Stimmen zu hören. Vielleicht Polizeibeamte, die sich darüber unterhielten, was sie gesehen hatten, und über das grausige Geschäft mit dem Mord nachdachten.
Ich rannte die Treppenstufen hinunter, und als ich mich bückte, um nach meinem Rucksack zu greifen, hätte ich schwören können, dass ich den Blick von irgendjemandem auf mir spürte. Langsam richtete ich mich wieder auf und drehte mich um. Nichts. Nur die gähnende Türöffnung des Mausoleums.
Ich packte die Tragegurte meines Rucksacks und lief wieder zurück, zurück zu Devlin.
Er war schon halb in der Grabkammer verschwunden. Oberhalb seiner Knie konnte ich nichts mehr von ihm sehen.
»Was machen Sie da?«, fragte ich erschrocken.
Er kroch wieder heraus und klopfte sich den Staub vomHemd. In seinen Wimpern hing eine Spinnwebe, und ich streckte die Hand hoch, um sie zu entfernen. Damit erschreckte ich ihn wohl, denn er packte reflexartig meine Hand, eine automatische Reaktion auf eine plötzliche Bewegung.
»Entschuldigen Sie. Sie haben da eine …« Ich bewegte meinen Finger. »Auf Ihren Wimpern.«
Er wischte die Spinnwebe weg, seine Miene war unergründlich in dem grauen Licht. »Haben Sie eine Taschenlampe gefunden?«
»Ach ja, hier.« Der Zwischenfall hatte mich etwas durcheinandergebracht, und ich kam mir ungeschickt vor und hölzern, als ich in meiner Tasche herumwühlte und nach einer der beiden Taschenlampen suchte, die ich immer dabeihatte.
Er schaltete die Lampe ein, prüfte die Stärke des Lichtstrahls an der Wand, dann legte er sich flach auf den Boden und leuchtete mit der Lampe in die Grabkammer.
Ich legte mich ebenfalls auf den Boden und spähte durch die Öffnung.
»Sehen Sie es?«, fragte Devlin.
Ich kniff die Augen zusammen. »Was?«
»Ganz hinten.« In seiner Stimme schwang nicht unbedingt Erregung mit – aber innere Anspannung.
Ich schob mich auf dem Bauch dichter an die Öffnung heran. »Was soll ich denn sehen?«
»In der Rückwand fehlen ein paar Ziegel. Wenn ich mit der Lampe durch das Loch leuchte, ist dahinter nur ein leerer Raum.«
»Und das heißt …?«
»Dass da die Fliegen verschwinden. Hinter dieser Wand muss ein Tunnel sein oder eine Kammer.«
Jetzt spürte ich selbst auf einmal einen Anflug von Erregung.
Weitere Kostenlose Bücher