Totenhauch
ich mein Leben lang befolgte.
Ich fand das entzückend … am Anfang …
»Ich gehe da jetzt rein«, verkündete er unvermittelt.
»In das Mausoleum? Beweismaterial werden Sie da nach so langer Zeit nicht mehr finden.« Im nächsten Moment wurde mir bewusst, dass sein Vorhaben möglicherweise gar nichts mit Afton Delacourts Ermordung zu tun hatte, sondern allein mit seiner Frau. »Soll ich hier draußen warten?«
»Nur, wenn Sie zu viel Angst haben, hineinzugehen.«
»Ich habe überhaupt keine Angst. Ich bin schon in vielen Mausoleen gewesen. Und keines hat mir je Angst eingejagt, und selbst wenn Mausoleen mir Angst einjagen würden, könnte ich sie im Zuge meiner Arbeit nur schwerlich meiden.«
»Das ist eine sehr vernünftige Einstellung. Manchmal überraschen Sie mich.«
»Wirklich?«
Er zögerte. »Verstehen Sie das bitte nicht falsch«, meinte er dann, »aber die Fotografien in Ihrem Arbeitszimmer waren sehr aufschlussreich. Ich wette, Sie fühlen sich auf Ihren Friedhöfen sicherer als in der Stadt, in der Gesellschaft von Menschen.«
»Diese Einschätzung ist nicht ganz falsch«, gab ich zu.
Er nickte. »Es sieht so aus, als hätten sie sich hinter diesen Mauern Ihre eigene Welt geschaffen, aber trotzdem können Sie manchmal erstaunlich pragmatisch sein.«
Ja! Eine sehr pragmatische Frau, die sich bei Direktoren parapsychologischer Institute Ratschläge über Schattenwesen und Egregore holte. Die buchstabengetreu die Regeln ihres Vaters befolgte, damit sich die Totengeister, die in der Dämmerung durch den Schleier glitten, nicht an sie klammerten und ihr die Lebenskraft aussaugten.
»Da wir gerade von pragmatisch reden«, sagte ich, während ich hinter ihm die Treppe hinaufging, »Klapperschlangen haben eine ausgesprochene Vorliebe für solche Orte. Stecken Sie die Hand nicht unbedacht in irgendeine Mauerspalte.«
»Das werde ich im Hinterkopf behalten.« Er drückte die morsche Tür auf und trat ins Innere.
Die Strahlen der Spätnachmittagssonne blinzelten durch die zerbrochenen Fenster und erhellten die dicken Vorhänge aus Spinnweben, die von der Decke und in den Ecken hingen. Da war auch ein Geruch, etwas Erdiges und sehr Altes.
Gleich hinter der Tür blieb ich einen Moment lang stehen und ließ den Blick schweifen. Nichts schlängelte sich davon. Kein verräterisches Klappern. Das war beruhigend.
Efeu und Dornenranken krochen durch die Fenster herein, und der mit Ziegeln gepflasterte Boden war bedeckt mit einem Teppich aus Moos. Alles war von einer dicken Staubschicht überzogen. Ich fragte mich, ob irgendjemand hier gewesen war,seit man fünfzehn Jahre zuvor Afton Delacourts Leiche gefunden hatte.
»Wo hat man sie gefunden?« In der Stille des Mausoleums klang meine Stimme schroff und aufdringlich.
»Auf dem Boden. Ungefähr hier, würde ich sagen.« Verglichen mit meiner war Devlins Stimme seidenweich.
Ich schaute nach unten auf den Boden. Die Blutspuren waren schon längst in den zerbröckelten Ziegeln und im Mörtel verschwunden.
»Wer hat sie gefunden?«, fragte ich und verscheuchte eine Fliege, die um meinen Kopf schwirrte.
»Damals gab es einen Friedhofsverwalter. Groß für Ordnung gesorgt hat er nicht, wie sich herausgestellt hat. Sein Job bestand darin, Unbefugte zu verjagen, vor allem Kinder, die über die Friedhofsmauer geklettert sind, um hier irgendwelche Partys zu feiern. Er hat die Leiche hier drin entdeckt. Die Tür war offen, die Sonne hat hineingeschienen …«
Genau wie jetzt, dachte ich.
»Kam er als Tatverdächtiger infrage?«
»Er ist verhört worden, aber er war ein alter Mann. Ein paar Wochen, nachdem er die Leiche gefunden hatte, ist er an einem Herzinfarkt gestorben.«
»Schock oder Zufall?«
»Ein bisschen von beidem, würde ich sagen.«
Ich ging in den hinteren Teil des Raums, wo das Gewölbe besser erhalten war. Mit der Hand wischte ich etwas Schmutz weg und las eine Reihe von Namen, die untereinander aufgelistet waren – Dorothea Prescott Bedford, Mary Bedford Abbott, Alice Bedford Rhames, Eliza Bedford Thorpe –, und bei jedem Namen musste ich tiefer in die Hocke gehen, bis ich schließlich vor der untersten Grabkammer kauerte, in der einst die sterblichen Überreste von Dorotheas jüngster Tochter lagen, Virginia Bedford, die nur wenige Wochen vor ihrer Mutter gestorben war.
D er Tag bricht an …
Die Schatten fliehn …
Die Fesseln gehen auf …
Und nun gesegnete Ruh’.
Über der Inschrift war ein Symbol, das eine
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