Totenheer (German Edition)
Nächtlichen anrief, doch jetzt lebt meine Tochter Skena wieder.“
„Das nennst du leben?“
„Ich war dabei, als sie Liam getötet hat, sie muss verwirrt gewesen sein.“
Die Mutter streckte die Hand nach Skena aus, sanft berührte sie ihre Tochter an der Wange.
„Ich vergebe dir, Skena“, flüsterte sie mit Tränen in den Augen. „Ja, ich vergebe dir.“
„Tritt zurück und lass mich mein Werk beenden.“
„Nein“, keuchte die Mutter.
„Wie soll es mit deiner Tochter weitergehen? Willst du sie füttern, ihr noch mehr Schafe oder gar Menschen zum Fraß vorwerfen?“
„Liam war ihr einziges Opfer. Sie hat die Schafe nicht ang e rührt, das war er.“
„Der Nächtliche.“
In geduckter Haltung taumelte Wothar über die Türschwe l le, seine rechte Hand umklammerte das rostige Schwert. Er deut e te nach draußen.
„Da oben am Himmel ist etwas“, flüsterte der Kentare. „Die Dunke l heit ist zum Leben erwacht.“
Für einen Moment erklang das schwere Schlagen großer Flügel. La r kyens Herzschlag beschleunigte sich, rasch zog auch er sein Schwert.
Jetzt öffnete Skena ihren Mund und eine kalte Stimme drang tief aus ihrer Kehle, um in Ehrerbietung zu verkünden: „Der Nächtliche ist zurückgekehrt.“
„Was habt ihr getan?“ fuhr der Unsterbliche die Mutter an. „Ihr habt das Grauen nach Bolwarien gerufen.“
„Liam und ich, wir wollten doch nur, dass unsere Tochter wieder g e sund wird.“
Es sollten die letzten Worte der Mutter sein, denn Skena verbiss sich in ihrer Kehle und begann mit glucksenden Lauten ihr Blut zu sa u gen.
Larkyen handelte schnell, sein Schwerthieb tötete Mutter und Tochter zugleich. Dann eilte er nach draußen und sah g e rade noch, wie Wothars Pferd hinauf in den Nachthimmel g e rissen wurde. Ein klagendes Wiehern hallte durch die Nacht, und das Blut des Tieres re g nete vom Himmel. Dann trat wieder Stille ein.
„Die Dunkelheit ist lebendig geworden“, flüsterte Wothar. Der Ke n tare zitterte am ganzen Leib.
„Das also war der Nächtliche.“
Erinnerungen an die Sümpfe von Nemar begannen Larkyen heimz u suchen. Er dachte an die unzähligen Bestien, die durch die stickigen Nebeldünste liefen, brüllend, geifernd, mit einem Ausdruck in den Augen, den Larkyen niemals hatte vergessen können. In diesen A u gen schien kein klares Bewusstsein mehr beheimatet, sondern au s schließlich Blutgier, gepaart mit wilder Raserei. Und er dachte auch daran, wie sie Tarynaar getötet hatten, wie der Gott der Kentaren mit aufgerissenem Leib auf einem kalten Steinaltar inmitten der Sümpfe gelegen hatte. Sein Blut hatte den Durst der Strygarer für eine Weile gestillt. Tarynaars schimmernde Raubtieraugen waren so trüb gew e sen wie der Himmel, den sie in Totenstarre betrachteten.
Der Gedanke, dass die Strygarer einmal Menschen gewesen waren, erschien fast unerträglich. Es war, als habe sich durch den Biss ein unheilvoller Geist in ihren Leibern eingenistet, der von der ganzen Welt Besitz ergreifen wollte. Es war das U n vorstellbare, dieses abgrundtief Fremde, das selbst Larkyen e i ne Gänsehaut bescherte.
Der Kedanerhengst trug sie beide in vollem Galopp über die Südheide. Während die Landschaft an ihnen vorbeiraste, wa r fen Larkyen und Wothar immer wieder wachsame Blicke gen Himmel. Doch die Dunkelheit blieb regungslos.
Auch in der Siedlung roch es bereits nach Blut – ein Geruch, der noch öfter an Larkyens Nase dringen sollte. Der Nächtliche hatte weitere Spuren hinterlassen. Die spärlichen Behausungen hatten den Bewohnern keinerlei Schutz vor einer solchen B e drohung bieten können. Die Holztüren waren aus den Angeln gerissen, die Strohd ä cher zerfetzt. Überall lagen leblose Körper verstreut, die Knochen gebrochen, das Fleisch aufgerissen und von Bisswunden spitzer Zä h ne gezeichnet. Selbst die Kühe und Schweine waren Opfer des b e stialischen Blutdurstes geworden.
„Der Nächtliche hat sie alle getötet.“
„Warum hat er sie nicht auch verwandelt?“
„In dieser Siedlung lebten überwiegend alte Menschen, er hielt sie für unwürdig. Die Strygarer nehmen nicht jeden Me n schen in ihre Reihen auf, die Starken dürfen sich ihnen a n schließen, alle anderen sind bloß Opfer.“
Larkyen sah hinauf in den Nachthimmel, wo ein kühler Wind Wolkenschwaden vor sich her trieb. Irgendwo dort dra u ßen lauerte ein geflügelter Albtraum, dürstend nach noch mehr Blut. Und der Unsterbliche brüllte all seinen Zorn und seine Abscheu
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