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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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ernsten Zusammenbruch. Das würdest du gar nicht verstehen. Wenn du das als Trauma bezeichnen willst, bitte, dann ist es ein Trauma. Aber wenn du damit andeuten willst, dass da noch mehr passiert ist, liegst du falsch. Völlig falsch. Ich wurde nie in meinem Leben vergewaltigt, und bis dieser Vollidiot daherkam, hat mich auch noch niemand unsittlich berührt. Ich habe eine geistig gesunde, stabile und liebevolle Familie. Und vor unserem Training habe ich mich auch nie mit jemandem geprügelt.«
    » Wann hattest du diesen Zusammenbruch?«
    » Mit sechzehn. Das hat gedauert, bis ich achtzehn war.«
    » Wie alt warst du, als ich dich in Cambridge kennengelernt habe?«
    » Neunzehn. Da war ich gerade dabei, mich davon zu erholen. Bin ich immer noch. Werde ich auch wahrscheinlich immer sein.«
    Ich habe Lev in Cambridge kennengelernt. Er war gerade erst nach England gekommen und hatte sich sein Geld mit Selbstverteidigungskursen für Studenten verdient. Ich habe mich bei ihm angemeldet. Warum, wusste ich damals nicht. Weiß ich auch heute noch nicht. Ich hab nie groß darüber nachgedacht. Es reicht mir, dass ich mich sicherer fühle, weil ich weiß, dass ich auf mich aufpassen kann.
    » Und das erzählst du mir erst jetzt?«
    » Ich erzähle es überhaupt niemandem, Lev. Normalerweise nicht.«
    » Okay. Ich stelle mir vor: Glückliche kleine Fiona spaziert durchs Leben, großer böser Zusammenbruch kommt einfach so. Der Zusammenbruch ist wieder weg, dir geht’s schlecht, du bist entweder verrückt oder gelähmt vor Angst. Also, warum denke ich wohl: Trauma?«
    Stille. Besser gesagt: wir schweigen. Die Geigen spielen natürlich weiter.
    Lev hat bemerkt, dass das Wasser kocht, und macht sich noch einen Tee. Er hebt die Augenbrauen in der stummen Frage, ob ich auch einen will. Ich verneine, überlege es mir anders und will doch einen. Aber keinen Tee. Und auch keinen Joint. Ich will Alkohol, weil mich Alkohol viel besser betäubt als alle Joints der Welt, obwohl ich Alkohol kaum anrühre, weil ich ein paar sehr schlechte Erfahrungen damit gemacht habe. So schlecht, dass ich dachte, die Krankheit wäre zurück, würde mir in die Knochen kriechen und mich wie ein Totenkopf mit Zahnlücke angrinsen. Deswegen bin ich eine kiffende Abstinenzlerin. Oder so gut wie.
    » Vielleicht ist der Zusammenbruch das Trauma«, füge ich hinzu. » Zwei Jahre lang wusste ich nicht, ob ich lebendig oder tot war. Du kannst dir nicht vorstellen, wie das ist. Nicht mal ansatzweise.«
    Fehler.
    Ein schwerer Fehler, Lev so was zu sagen.
    Er leckt die Marmelade vom Löffel und nimmt einen Schluck Tee. Dann geht er vor mir in die Hocke. Zwingt mich, in seine Augen zu sehen. Unergründliche braune Augen. So unergründlich wie die Geschichte selbst, und so blank wie Knochen.
    » Ich war in Grosny. Fast zwei Jahre. Grosny in Tschetschenien. Die Russen waren da. Und Rebellen. Banditen. Dschihadisten. Söldner. Spione. Jedes Arschloch, das man sich nur vorstellen kann. Arschlöcher mit Waffen. Ich war da, weil … egal. Ich bleibe wegen einer Frau und einem kleinen Jungen. Fast zwei Jahre. Weil ich der war, der ich war, wollten mich alle … hat mir keiner vertraut und … Scheiße, Fiona. Große Scheiße. Jeden Tag. Die Freunde werden umgebracht. Oder es sind die Freunde, die töten. Alles, was schlimm ist, passiert. Das ist Normalität. So ist das. Lebe ich oder bin ich tot? Keine Ahnung. Zwei Jahre lang – keine Ahnung. Nicht nur ich, alle in Grosny. Alle in Tschetschenien. Ich weiß, wie das ist, Fiona. Ich weiß es.«
    Ich mache eine entschuldigende Geste mit den Händen. » Tut mir leid, Lev. Sorry. Vielleicht weißt du es ja. Vielleicht warst du sogar noch schlimmer dran als ich. Aber bei mir war das was anderes. Ich war nicht in Grosny, sondern in Cardiff. Die Scheiße ist nicht um mich herum passiert, sondern in mir drin. Hat mich einfach so überwältigt. Aus dem Nichts.«
    Lev nickt. » Trauma.«
    » Aus dem Nichts. Das Trauma aus dem All, oder wie?«, wende ich ein.
    » Schläfst du gut?«
    » Ja. Wie ein Baby. Und noch besser, seit ich die Pistole habe.«
    » Und zuvor?«
    » Zuvor … manchmal gut, manchmal nicht.«
    » Träume?«
    » Ich träume nie.« Das ist nicht gelogen. Ich träume nie. Nur manchmal, wenn ich in panischer Angst aufwache und nicht weiß, wovor. Nächte voll unergründlicher Angst. Ein Schädel, der mich im Dunklen angrinst. Nächte, in denen es mir nur allzu leichtfällt, meine Gefühle zu benennen.
    » Angst? Angst

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