Totenklage
ohne Grund?«
Ich will ihm schon von meinen Albträumen erzählen, lasse es jedoch bleiben. Dieses prickelnde Gefühl, das ich nicht einordnen kann? In der letzten Zeit ist es schlimmer geworden, aber ich lebe damit, solange ich denken kann. Vielleicht ist Angst der richtige Begriff dafür. Vielleicht handelt es sich bei diesem Gefühl tatsächlich um Angst.
» Vielleicht«, sage ich und weiß sofort, dass es kein » vielleicht« mehr ist. Das Gefühl ist Angst. Und ich habe sie schon mein ganzes Leben lang. » Ja«, korrigiere ich mich. » Nicht vielleicht. Ja.«
Lev nickt. » Trauma. Das ist ein Trauma. Wie nennen es die Amerikaner? Ihre Soldaten bringen es nach Hause?«
» PTBS . Posttraumatische Belastungsstörung.«
» Da. Genau. PTBS . Das hast du.«
Dabei lassen wir es bewenden.
Ich will mich nicht mit ihm streiten. Ich wurde noch nie angegriffen. Ich wurde noch nie vergewaltigt. Der Schoß meiner Familie ist so sicher und heimelig, wie es nur geht. Verflucht, man hat mich nicht mal in der Schule gehänselt. Ich habe auch keine zwielichtigen Onkel. Man hat mich nie an der Bushaltestelle oder im Kino begrapscht. Die kleine Miss Heile Welt. Das bin ich.
Und trotzdem hat Lev recht. Das spüre ich. Das Trauma steckt mir in den Knochen. Wenn ich mich nicht damit auseinandersetze, werde ich niemals Frieden finden.
Ich stehe auf. Ich bin hundemüde. Lev bleibt sitzen. Ich massiere seinen Nacken und die starken Muskelstränge, die von dort bis zu seinen Schulterblättern verlaufen. Eine Minute lang mache ich nur das, nichts anderes. Ich massiere. Er genießt es. Geigen.
Ich frage mich, wie alt er ist. Was er sonst noch alles erlebt hat. Eigentlich wissen wir überhaupt nichts voneinander.
» Danke, Lev. Willst du bleiben? Ich gehe jetzt ins Bett. Da liegt der Schlüssel, wenn du ihn suchst.«
Ich zeige ihm den Schlüssel zum Schuppen. Die Wahrscheinlichkeit, dass Lev die Nacht über hierbleibt, Dope raucht und Schostakowitsch anhört, liegt bei fünfzig Prozent. Anfangs habe ich ihn noch für die Krav-Maga-Stunden bezahlt, aber das ist schon lange vorbei. Keine Ahnung, wieso. Irgendwann hat er aufgehört, Geld von mir zu verlangen. Ich weiß nicht, welche Art Beziehung wir derzeit führen. Es ist keine Freundschaft. Jedenfalls nicht im normalen Sinn. Andererseits sind wir ja auch nicht normal. Ich mit meinem Kopf, er mit seiner Vergangenheit. Vielleicht ist es einfach nur die anormale Version einer Freundschaft.
» Gute Nacht, Fiona.« Die Pistole liegt immer noch auf dem Küchentisch. Er schiebt sie mir zu. Irgendwie weiß er, dass ich sie mit ins Bett nehmen werde. » Wenn du in Gefahr bist, vergiss das Trauma nicht. Dein Instinkt sagt: Tu zu viel, tu zu wenig. Beides ist schlecht. Verlass dich auf deinen Kopf, nicht darauf.«
Er deutet auf sein Herz.
Ich nicke. Ich weiß, was er meint. Dafür habe ich sogar ein Motto parat:
» Scheiß auf die Gefühle und vertrau deinem Verstand«, sage ich.
Er wiederholt es grinsend. Das gefällt ihm.
» Scheiß auf die Gefühle und vertrau deinem Verstand.«
34
Ich bin müde. Viel zu müde.
Dank Lev habe ich einigermaßen geschlafen, trotzdem ist es gestern Nacht spät geworden, und der Wecker klingelt um Viertel nach sieben. Gerade mal vier Stunden Schlaf, und dennoch die beste Nacht seit langem.
Ich blinzle mich ins Bewusstsein. Ich liege immer noch auf dem Futon, und beim Aufwachen wanderte meine Hand erst zur Pistole und dann zum Wecker.
Ich gehe duschen. Lev schläft auf dem oberen Treppenabsatz. Ich weiß nicht, weshalb er gerade da schläft, aber er wird schon seine Gründe haben. Als ich an ihm vorbeigehe, wacht er auf. Oder öffnet zumindest die Augen. Bei Lev kann man nie genau sagen, wann er wach ist und wann nicht. Ich hole ihm ein Kissen aus dem Schlafzimmer. Er könnte sich auch auf das Reservebett im Gästezimmer legen, wenn er wollte. Selbst nach der Dusche sehe ich müde aus. Ich entscheide mich für weiche, bequeme Klamotten und gehe nach unten. Lev hat überall auf dem Küchentisch Grastüten verstreut. Ich rolle ihm einen Joint für später, wenn er aufwacht, und sperre das restliche Gras wieder weg. Dann frühstücke ich.
Und gehe zur Arbeit. Nicht, weil ich besonders große Lust hätte oder weil mich die Arbeit interessieren würde, sondern weil ich eben gut darin bin.
Mir ist bewusst, dass ich in letzter Zeit ein klein wenig seltsam war – das heißt, seltsamer als sonst –, doch ich spüre, dass sich letzte Nacht etwas verstärkt
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