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Totenklage

Totenklage

Titel: Totenklage Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Bingham
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ausgewählte Highlights, sondern die ganze Geschichte. Lev besteht darauf, dass wir es nachspielen, damit er sich vorstellen kann, wo ich gestanden habe, wo Penry gestanden hat, wo ich hingefallen bin, was danach passiert ist.
    » Du hast nicht zurückgeschlagen?«
    » Nein.«
    » Aber du warst doch auf der Treppe. So, hier?«
    Lev lässt mich genau dieselbe Position einnehmen, in der ich lag, nachdem mich Penry geschlagen hat. Hintern auf der untersten Stufe. Ausgestreckte Beine. Kopf und Oberkörper gegen die Wand. Es ist ein seltsames Gefühl. Angsteinflößend. Lev ist nicht Penry. Er ist weder so groß noch so kräftig. Aber von hier auf dem Boden sieht jeder Mann so aus, als wäre er zwei Meilen hoch.
    » Ja. Genau so. Hab ich dir doch gesagt.«
    » Und der Typ, wie heißt er noch?«
    » Penry. Brian Penry. Eigentlich kein schlechter Kerl. Ich mag ihn irgendwie.«
    » Penry. Ich bin Penry. Stehe ich richtig?«
    » Ja. Nein. Etwas weiter vor und näher an die Wand. Ja, so. Das kommt hin.«
    Jetzt wird mir langsam unbehaglich. Penry hat einen dunklen Teint. Lev auch. Dieselbe Stelle. Dieselbe Haltung. Weil sich die Flurlampe hinter Lev befindet, könnte er tatsächlich Penry sein.
    » Okay. Ich bin Penry. Ich habe dich gerade geschlagen. Was hast du an?«
    » Was? Einen Rock. Es war ein beschissen heißer Tag, Lev. Ich hatte einen Rock an, okay?«
    » Nein. Das ist mir egal. Die Schuhe. Was für Schuhe?«
    » Flache.«
    » Was soll das heißen, flache? Dicke Sohlen, schwere Schuhe?«
    » Nein, Lev. Wir sind hier nicht in einem Krisengebiet. Ich bin eine Frau. Es war ein heißer Tag.«
    » Okay, also keine Schuhe. Trotzdem kannst du das Knie treffen. Versuch mal.«
    » Lev, ich hab doch die Pistole. Penry hat mich einmal geschlagen und ist dann abgehauen. Ich will ihm nichts tun. Er ist einfach zur Tür rausspaziert und weggefahren.«
    » Also ein taktisches Manöver? Dass du nicht zurückgeschlagen hast?«
    » Nein, das nun auch nicht.«
    » Ich bin Penry. Ich schlage dich einmal. Ich will dich noch mal schlagen. Vielleicht bring ich dich um. Nein, erst fick ich dich, dann bring ich dich um. Ja, wieso nicht? Erst fick ich dich.«
    Er macht eine klitzekleine Bewegung auf mich zu. Mit dem Licht in seinem Rücken, seiner fiesen Stimme und seiner bedrohlichen Haltung macht er mir tatsächlich Angst. Vielleicht liegt das am Marihuana, doch das glaube ich nicht. Davon kriege ich keine Paranoia. Es beruhigt mich. Deswegen habe ich ja überhaupt damit angefangen und rauche es immer noch. Selbstmedikation. Leider kommt die Droge nicht gegen die Angst an, die ich im Moment spüre. Ich fühle mich wie damals, als ich vor Penry auf der Stufe lag. Vielleicht ist es nur eine Körpererinnerung, aber sie macht mir trotzdem gewaltig Angst.
    » Erst fick ich dich, dann bring ich dich um.«
    Lev kommt wieder ein kleines bisschen näher.
    Ein Instinkt ergreift Besitz von mir. Ein Killerinstinkt.
    Ich trete mit dem oberen – dem rechten – Bein zu. Ich ziele auf Levs Kniescheibe und treffe genau ins Schwarze. Lev fällt hintenüber, und ich setze nach, indem ich zweimal hart mit dem Absatz auf seine Hoden trete. Dann gehe ich in Stellung, um ihm so lange in die Luftröhre zu stiefeln, bis ich seinen Kehlkopf zerschmettert habe und der blöde Scheißkerl auf Knien nach Luft ringt und um Gnade winselt und sich schon mal darauf freuen kann, gleich mein Knie in seinem Gesicht zu haben.
    » Gut. Sehr gut.«
    Natürlich lässt Lev nicht zu, dass ich ihn ernsthaft verletze. Er hat im letzten Augenblick das Knie leicht angehoben, sodass ich nur seine Wade erwischt habe. Und was seine Hoden angeht – da hat er meinen Fuß in beide Hände genommen und damit die Wucht meiner Tritte seitlich auf seinen Oberschenkel umgeleitet.
    Aber das ist nicht meine Welt, sondern Levs. Und Levs Welt des unbewaffneten Nahkampfs besteht aus einer Reihe von Schlägen und Kontern. Ich bin völlig außer Atem. Zum einen aufgrund der körperlichen Anstrengung, zum anderen, weil mich eine Flut von Gefühlen überrollt, die ich nicht benennen kann. Es sind nicht mal richtige Emotionen. Ich fühle mich nur desorientiert und neben meinem Körper, und am liebsten würde ich auf Levs Luftröhre eintreten, bis er aus dem letzten Loch pfeift.
    Er redet auf mich ein, aber ich habe Schwierigkeiten, mich darauf zu konzentrieren. Ich versuch’s ja. Er wiederholt, was er gesagt hat.
    » Angst? Als es passiert ist, hattest du da Angst?«
    » Nein. Das war mehr als nur Angst.

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