Totenklage
Seit meinem Besuch in Cefn Mawr habe ich mein Handy nicht wieder eingeschaltet. Ich mache es an und erhalte eine wahre Flut von SMS -Nachrichten, von denen aber keine so wichtig ist, als dass ich darauf antworten müsste.
Ich überlege, ob ich wieder reingehen sollte, doch erstens habe ich noch nicht zu Mittag gegessen und zweitens hat mich mein bisheriger, ziemlich fruchtloser Ausflug in die Allison Street schon hibbelig genug gemacht.
Auf dem Weg hierher habe ich einen Kiosk bemerkt und schlendere in die Richtung, aber wie üblich verliere ich die Orientierung und wandere ziellos umher. Offensichtlich habe ich kein großes Talent, wenn es darum geht, große, unbewegliche, mit grellen Werbetafeln und blinkenden Lichtern ausgestattete Orte zu finden. Irgendwann gelingt es mir dann doch.
Zeitungen. Schokoriegel. Ein Kühlregal mit Milch, Joghurt und derjenigen Sorte von verzehrfertigen Fleischprodukten, die einem die Arterien in ungefähr dem gleichen Zeitraum verstopfen, den ein Schwein in Massentierhaltung braucht, um von einem kleinen Ferkel zur schlachtreifen Sau heranzuwachsen. Ein paar Konserven, abgepacktes Brot und Kekse, daneben etwas nicht mehr allzu frisches Obst.
Ich nehme mir einen Orangensaft und ein Sandwich mit Käse und Tomaten. Das Mädchen an der Kasse heißt Farideh. Das steht zumindest auf dem Plastiknamensschild.
Mit einem » Hi« eröffne ich das Gespräch.
Farideh geht nicht darauf ein und zieht schweigend meine Sachen durch den Scanner. Ein Überwachungsmonitor über ihr zeigt den Laden abwechselnd aus verschiedenen Blickwinkeln. Gerade nimmt die Kamera einen über das Kühlregal gebeugten Rentner ins Auge.
» Ich bin von der Polizei«, sage ich. » Ich untersuche den Mord an der Mutter und ihrer Tochter hier in der Straße.«
Farideh nickt und sagt etwas ebenso Nichtssagendes wie Beruhigendes. Was man eben so sagt, um seine grundsätzliche Kooperationsbereitschaft auszudrücken, ohne es auch wirklich so zu meinen.
» Haben Sie sie gekannt?«
» Sie war ein paar Mal hier, glaub ich. Die Mutter.«
» Die Rothaarige? Janet?«
Farideh nickt. » Ihr Leute. Immer dieselben Fragen. Hab ich doch schon gesagt.«
Ich habe nicht richtig verstanden, ob sie » ihr Leute« oder » Ihre Leute« gesagt hat. Ersteres klingt etwas herablassend, ein bisschen nach die und wir. » Ihre Leute« ist dagegen fast ein Kompliment, als wäre die Polizei mein Bienenschwarm, ein Haufen Drohnen, die um ihre Königin herumschwirren. Allerdings spricht Farideh mit ziemlich starkem Akzent, sodass ich mir möglicherweise viel zu viele Gedanken über ihre Wortwahl mache.
Farideh rechnet meine Einkäufe zusammen und setzt ihre Bezahl-und-verschwinde-Miene auf.
» Und das Mädchen haben Sie nicht gesehen? Ist es nicht mal vorbeigekommen, um, keine Ahnung, ein Schokoeis zu kaufen oder so?«
» Nein.«
» Heutzutage wollen die Mädchen kein Schokoeis mehr, oder? Ist bestimmt nicht mehr angesagt.« Ich denke laut nach. Meine Unwissenheit ist nicht gespielt. Natürlich war ich selbst irgendwann mal ein sechsjähriges Mädchen mit genug Taschengeld, um mir Süßigkeiten im Kiosk um die Ecke zu kaufen, aber das scheint mir so unglaublich lange her. Manchmal macht es mir richtig Angst, wie gut sich andere Leute an ihre Vergangenheit erinnern können. Trotzdem bemühe ich mich, Aprils Einkaufsgewohnheiten auf die Spur zu kommen. » Rolo? KitKat? Gummibärchen? Smarties?«
Ich weiß nicht, ob ich richtig geraten habe. Farideh bleibt hart. Sie hat das Mädchen nicht gesehen. Der Rentner, der nach mir ins Geschäft kam, hat seine Suche im Kühlregal beendet und stellt sich hinter mir an, um zu bezahlen. Ich krame mein Geld heraus.
Im Schaufenster hängen ein paar handgeschriebene Kleinanzeigen. Da werden Mountainbikes verkauft, Schrebergärten vermietet und Handlangerdienste angeboten: » Wir machen alles.« Außerdem ein polizeilicher Hinweis, von unserer Pressestelle streng nach Vorschrift verfasst, vierfarbig ausgedruckt, laminiert und mit der roten Nummer der kostenfreien Hotline am unteren Rand versehen. Der Hinweis ist an dieser Stelle völlig nutzlos. Die Leute hier werden ihn einfach ausblenden wie ihre Stromrechnungen, öffentliche Bekanntmachungen, Sozialamts- oder Steuerbescheide.
Ich lasse den Rentner bezahlen, dann frage ich Farideh, ob ich auch eine Anzeige aufhängen darf.
» A5 oder Postkarte?«, fragt sie.
» Postkarte«, sage ich. Das Format gefällt mir besser.
Sie gibt mir eine, und ich schreibe
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