Totenklage
einer Reihe unbesetzter Stühle und einer dieser Büropflanzen, die aussehen, als wären sie aus Plastik und würden niemals wachsen, blühen, Samen abwerfen oder sonst irgendetwas tun, was Pflanzen eben so tun.
Jackson und Price stehen vor der Männerumkleide und diskutieren darüber, wann der Autopsiebericht fertig sein muss, wie lange die DNA -Analyse noch dauern wird und so weiter. Männergespräche. Jedenfalls bleibe ich außen vor. Ich stehe neben ihnen in meinem langen weißen Overall und den lächerlichen Stiefeln und komme mir vor wie ein Statist in einem billigen Horrorfilm. Da bemerke ich, wie schnell mein Herz schlägt. Nicht in einem negativen Sinn wie auf dem Parkplatz von Cefn Mawr, aber doch deutlich spürbar. Ich achte sehr auf solche Signale, weil mir mein Körper oft wichtige Hinweise auf meine Gefühle gibt. Ein schnell schlagendes Herz hat irgendetwas zu bedeuten, wenn ich auch nicht genau weiß, was. Ich lasse meiner Aufmerksamkeit freien Lauf und warte ab, wohin sie mich führt.
Und fast augenblicklich erhalte ich auch die Antwort: Ich muss noch mal in den Obduktionssaal. Ich habe etwas vergessen.
Diese Antwort ist, sobald ich erst mal darauf gekommen bin, äußerst vernünftig. Warum dem so ist, weiß ich nicht, aber ich muss mich ja nicht ständig um die Warums kümmern. Ich muss tun, was ich tun muss.
» Könnten Sie einen Moment warten? Ich glaube, ich habe meinen Stift vergessen«, murmle ich.
Die beiden Männer unterbrechen ihr Gespräch nicht. Jackson sieht auf mich herab und nickt. Er ist fast eins neunzig und damit einen Kopf größer als ich. Price ist genauso groß. Das wird immer schlimmer. Ich bin nicht nur in einem Horrorfilm gelandet, ich spiele darin auch noch einen Zwerg. Ich raschle durch die Schwingtüren zurück in den Obduktionssaal.
Dort ist es so still und friedlich, dass die Anspannung unmittelbar von mir abfällt. Ich spüre, wie sich mein Herz beruhigt und die Nervosität nachlässt.
Als ich die Hand nach dem Lichtschalter ausstrecke, fällt mir das wunderschöne violette Zwielicht im Raum auf. Ich lasse das Licht aus.
Dann nehme ich meinen Stift und schiebe ihn unter das Laken, das Janet Mancini bedeckt, damit ich etwas zu » finden« habe, falls jemand nach mir sieht.
Sonst tue ich gar nichts. Ich lege eine Hand auf Janets beneidenswert schlanke Wade, die andere auf den Autopsietisch, und lasse die Stille auf mich wirken. Das hier ist der friedlichste Ort der Welt. Ich beuge den Kopf so weit vor, dass mein Gesicht das blaue Laken über Janets Füßen berührt. Ich nehme nur einen schwach medizinischen Geruch wahr. Alle menschlichen Ausdünstungen sind lange verschwunden.
Ich könnte hier eine Ewigkeit stehen, reglos, und nur die leere Klinikluft einatmen. Leider habe ich nicht ganz so viel Zeit, daher zwinge ich mich dazu, die beiden Leichen aufzudecken, um noch mal in ihre Gesichter zu sehen. Janet mit ausdrucksloser Miene, April mit halbem, lächelndem Gesicht. Der Verband um ihren Kopf hat sich wieder abgesenkt, und ich streiche ihn glatt.
Jetzt, ohne gestört zu werden, sehen sie wirklich wie Mutter und Tochter aus. Über Aprils Augen kann ich natürlich nichts sagen – sie hat keine mehr –, doch ihr Mund ist der ihrer Mutter in Miniaturversion. Genauso wie das kleine Kinn mit den Grübchen. Ich streichle erst Aprils, dann Janets Wangen. Sie sind beide gleich tot, deshalb behandle ich sie auch gleich.
Ich starre sie an.
Janet starrt zurück. Noch sagt sie nichts. Sie muss sich erst an den Tod gewöhnen. April starrt nicht, aber sie lächelt. Ich glaube, dass der Tod nicht allzu schlimm für sie ist. Ihr Leben war hart. Im Vergleich dazu ist der Tod ein Klacks.
Wir lächeln uns eine Weile an und genießen dieses nette Beisammensein. Ich beuge mich zu Janets Haar vor, rieche daran, berühre es, kämme es mit den Fingern, wobei eine Duftwolke aus Desinfektionsmittel und Shampoo aufsteigt. Apfel oder so.
Ich bleibe mit den Fingern in Janets Haaren stehen und überlege mir genau, aus welchem Antrieb ich hierher zurückgekehrt bin. Janets Kopfhaut fühlt sich sehr weich unter meinen Fingerspitzen an. Ich spüre, wie die kleine April neben mir lächelt.
Irgendetwas an unserem kurzen Gespräch ist unvollständig, aber ich weiß nicht, was noch fehlt.
» Gute Nacht, kleine April«, sage ich. » Gute Nacht, Janet.«
Es ist nur angemessen, das zu sagen, trotzdem bleibt das Gefühl der Unvollständigkeit bestehen. Ich warte noch ein paar Sekunden.
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