Totenklage
Jackson sieht in seinem weißen Overall und den Gummistiefeln wie ein Volltrottel aus, aber mir geht es ja ähnlich. Wir grinsen uns an. Bei der kleinsten Bewegung rascheln wir wie Taft. Price trägt mehr oder weniger dieselbe Aufmachung, doch ihm steht sie irgendwie. Außerdem raschelt es bei ihm nicht.
Sobald Price am Ende seiner Ausführungen angekommen ist, kehrt er zum tatsächlichen Fall zurück. Eine notwendige, langweilige Routineaufgabe. Ich mache Notizen. Jackson tigert auf und ab. Price redet. Offensichtlich macht es ihm Spaß, uns zu langweilen. Noch wurde kein Hinweis auf HIV oder eine andere Krankheit gefunden, aber die Tests sind noch nicht abgeschlossen. Kein sexueller Missbrauch. Kein Sperma im oder am Körper.
Dann sind wir mit Janet fertig. Ich wickle ihre Füße wieder ein und bedecke ihren Kopf. Diesmal kann ich allerdings nicht widerstehen und berühre eine kupferne Strähne, als ich das Laken über ihr Gesicht breite. Das Haar fühlt sich an wie frisch gewaschen, sauber und seidig. Ich würde gerne daran riechen.
Auf der zweiten Bahre liegt April Mancini. Ihr Kopf ist bandagiert, damit man den zerstörten Schädel nicht sehen kann. Doch der Verband hängt durch, wo er eigentlich straff anliegen sollte, und zeigt so das Loch an der Stelle an, an der mal ein Kopf war.
» Die Todesursache«, fängt Price an und kommt damit einem geschmacklosen Scherz gefährlich nahe, » ist offensichtlich. Kein Drogenkonsum. Außerdem konnten wir keinen Hinweis auf sexuellen Missbrauch entdecken. Kein Sperma. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass keine größere Gewalteinwirkung stattgefunden hat – vom Spülbecken abgesehen, natürlich. Allerdings kann viel passieren, ohne Spuren zu hinterlassen. Es gibt keine Hinweise auf eine Krankheit oder eine Infektion, obwohl die Blutanalyse noch nicht abgeschlossen ist. Sonst kann ich nicht viel mehr dazu sagen.«
Er steht vor Aprils Kopf und zieht an dem Verband, damit er nicht so durchhängt. Ich weiß nicht, ob er das tut, weil er nervös ist, weil er die Würde des kleinen Mädchens bewahren will oder einfach nur, weil er ein zwanghafter Ordnungsfanatiker ist. Wahrscheinlich Letzteres.
Jackson vermeidet es, die Leichen anzusehen. Er steht neben einer Schreibtischlampe auf der Arbeitsfläche in der Ecke. Er dreht die Lampe hin und her, bis die Federn quietschen.
» Gibt es Anzeichen eines Kampfes? Blut unter den Fingernägeln oder so?«
» Das haben wir natürlich überprüft. Die DNA -Analyse ist noch nicht abgeschlossen, deshalb ist es durchaus möglich, dass wir da noch etwas finden, aber höchstwahrscheinlich nur wenig verwertbares Material. Jedenfalls gibt es keine eindeutigen Hinweise auf einen Kampf.«
Jackson wird zunehmend frustrierter, doch Price ist nun mal nur Rechtsmediziner. Er wertet Beweise aus. In die Vergangenheit sehen kann er so wenig wie wir. Ich habe inzwischen dreizehn Seiten meines Notizbuchs in meiner ungeliebten geschwungenen Handschrift gefüllt. Morgen werde ich als Erstes alles abtippen und in Groove eingeben. Eine Schlüsselfrage allerdings ist noch unbeantwortet. Wenn Jackson sie nicht stellt, werde ich das tun, aber natürlich ist Jackson ein alter Hase. Er biegt die Lampe so weit nach unten, dass die Federn kreischen.
» Tödliche Atemdepression«, sagt er.
Price nickt. Er weiß, worauf Jackson hinauswill.
» Was, wenn diese Atemdepression gar nicht tödlich war? Nehmen wir an, dass sie nur unter den Symptomen litt. Kurzatmigkeit. Schwäche. Desorientierung?«
» Korrekt. Die Lungen bekommen nicht genügend Luft, um den notwendigen Gasaustausch zu vollziehen. Wenn dieser Zustand lange genug anhält, kann er zum Tode führen. Und wenn nicht, ist die betreffende Person zumindest völlig desorientiert, möglicherweise sogar bewusstlos. Auf jeden Fall schwach und durcheinander. Wahrscheinlich nicht in der Lage, aufrecht zu stehen. Unter Umständen ist auch ihr Sehvermögen beeinträchtigt.«
» Mit anderen Worten: kurz vor einer Überdosis«, sagt Jackson. » Wenn man sie in Ruhe lässt, überlebt sie möglicherweise. Wenn sie Glück hat.«
Price nickt wieder. » Und wenn man sie nicht in Ruhe lässt …«
» Das perfekte Opfer. Wenn sie jemand umbringen wollte, brauchte er ihr nur die Nase zuzuhalten, eine Hand auf den Mund zu legen und abzuwarten.«
» Ein bis zwei Minuten«, sagt Price. » Ein Kinderspiel.«
5
Geschafft.
Wir stehen vor dem Obduktionssaal in einem kleinen Empfangsraum mit einem leeren Schreibtisch,
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