Totenklage
Was ziemlich erschreckend ist, wenn man mal drüber nachdenkt.
Ich ziehe mich schnell an. Meine Freizeitkleidung besteht aus Jeans und T-Shirt sowie allem, was das Wetter oder die Gelegenheit zusätzlich verlangen. Heute ist es allerdings zu warm für eine Jeans. Es hat schon über zwanzig Grad, und die Temperatur steigt. Daher entscheide ich mich für etwas Sommerliches: einen weiten beigen Rock und ein Top mit pistazienfarbenen und kaffeebraunen Streifen. Sommerklamotten. Gute-Laune-Klamotten.
Ich nehme die Bach- CD mit ins Auto und brause durch die Stadt. Die Eastern Avenue ist so gut wie leer, daher bin ich schnell am Ziel, auch ohne die Geschwindigkeitsbegrenzung zu missachten.
Rhyader Crescent. Die Lehrer, Krankenschwestern, mittleren Führungskräfte und aufstrebenden Anwälte sind noch im Bett, gähnen gerade ihren Toast an oder machen sich für einen Tag mit ihren hyperaktiven Kindern bereit. Der in Ungnade gefallene Polizist, der in Nummer 27 wohnt, macht offensichtlich gar nichts. Der Toyota Yaris steht vor dem Haus, die Motorhaube ist kalt. Im Haus brennt kein Licht, und auch sonst ist kein Lebenszeichen zu erkennen.
Mit größter Wahrscheinlichkeit schnarcht der in Ungnade gefallene Polizist im ersten Stock vor sich hin. Er ist wohl nicht gerade ein Frühaufsteher.
Ich habe keinen Plan, was ich als positives Zeichen auffasse. Ohne Plan kann auch nichts schiefgehen. Um nicht aufzufallen, nehme ich einen kleinen Pfad, der hinter das Haus führt. Eine Frau im diagonal gegenüberliegenden Garten hängt gerade Wäsche auf. Sie nimmt mich zur Kenntnis, ohne etwas zu sagen. Warum auch? Ich sehe nicht unbedingt wie ein Einbrecher aus, und es ist auch nicht Einbrecherzeit. Möwen kreisen gelangweilt über dem Victoria Park.
Ich setze mich vor den Hintereingang und warte, bis die Frau ins Haus geht.
Penrys Schlüssel wollten mir nicht mehr aus dem Kopf. Sein Haus hat eine L-Form. Die Küche bildet den Arm des L, und der Wintergarten steht genau in der Ecke. Als ich im Haus war, konnte ich die Schlüssel zur Wintergartentür an der Wand hängen sehen – das ist ja auch nicht schlimm –, allerdings sind sie auch vom Garten aus sichtbar. Ein mit einem Ziegelstein bewaffneter Einbrecher könnte mit Leichtigkeit eine Scheibe einschlagen, die Schlüssel nehmen und sich ins Haus lassen. Das ist äußerst leichtsinnig, besonders für einen ehemaligen Polizisten wie Penry.
Das hat meine Aufmerksamkeit erregt.
Natürlich werde ich kein Fenster einschlagen, aber ich wette, dass Penry nicht viele Freunde unter den Nachbarn hat. Er grüßt sie, geht jedoch nicht mit ihnen auf ein Bier ins Pub oder so. Dafür ist diese Gegend zu sehr Vorstadt mit Familie, exakt 2,4 Kindern und so weiter. Ich wette, dass keiner der Nachbarn einen Reserveschlüssel für sein Haus hat.
Nicht zu vergessen das Spülbecken. Penry ist nicht heruntergekommen, aber weder organisiert noch besonders haushaltstüchtig. Ein richtiger Mann mit Bierdosen im Küchenmülleimer und noch mehr Bier im Pub. Die Vertreter dieser Gattung brauchen entweder eine Ehefrau oder einen Reserveschlüssel. Und verheiratet ist er nicht.
Die Frau von gegenüber verschwindet im Haus, und ich kann mich ungestört der Hintertür widmen. Der, die in die Küche und nicht in den Wintergarten führt.
Ich drücke die Klinke supervorsichtig herunter. Abgeschlossen.
Im Garten sind keine Blumentöpfe zu sehen. Ein paar Ziegelsteine und verwitterte Holzbohlen, aber darunter ist nichts. Der Türrahmen schließt mit der Wand ab, also kann man nichts darauf ablegen. Nada.
Verflucht. Eine Welle der Frustration überrollt mich, die jedoch sofort wieder von Zuversicht abgelöst wird. Ich weiß einfach, dass meine Vermutung richtig ist. Ich habe Penry durchschaut. Er hat hier irgendwo einen Reserveschlüssel versteckt. Das geht gar nicht anders.
Dann fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Der Wintergarten war seine letzte Anschaffung. Die Schlüssel am Türrahmen sind äußerst leichtsinnig, aber er hat sie zu einem Zeitpunkt dorthin gehängt, als er bereits so viel Geld unterschlagen hatte, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis jemand ihm auf die Schliche kam. Eine » Auch schon scheißegal«-Geste. Penry war nicht immer so.
Ich drehe mich um und inspiziere den Garten. Ich bin Penry. Gerade wurde ich aus dem Polizeidienst entlassen. Mit allen Ehren, aufgrund einer Verletzung. Ich beziehe eine Rente und bin alleinstehend. Ich muss meinen Reserveschlüssel irgendwo
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