Totenklage
verstecken, und das gut. Noch bevor ich dieses Gedankenexperiment bis zum Ende durchgespielt habe, bin ich schon auf dem Weg zu einem gepflasterten Areal im Garten, wo eine Bank, ein wackliger Pavillon und ein Grill stehen. Ich überprüfe erst die Bank, dann den Grill und schließlich die Pflastersteine. Direkt neben dem Gartenzaun entdecke ich einen losen Stein. Ich ziehe ihn heraus. Zwischen den Mörtelbrocken zwinkert mir ein blitzender Messingschlüssel zu.
20
Vordertür oder Hintertür?
Der Schlüssel sieht aus, als würde er in die Hintertür passen. Ich versuche es, kann die Tür auf Anhieb aufsperren und stehe in der nach wie vor unordentlichen Küche. Die Tasse, die ich in den Mülleimer gepfeffert habe, steht wieder auf der Anrichte. Ich lege sie in den Mülleimer zurück, als Erinnerung, dass er besser auf Sauberkeit achten sollte.
Mit meinen Schuhen in der Hand schleiche ich weiter ins Haus hinein. Es ist immer noch sehr früh, noch nicht mal Viertel nach sieben. Penry ist auf keinen Fall ein Frühaufsteher, aber wer weiß, wie leicht sein Schlaf ist. Es würde mir ganz und gar nicht gefallen, wenn er aufwacht und mich hier überrascht. Eigentlich fühle ich keine Angst, weil ich irgendwie zu verwirrt für so ein spezifisches Gefühl bin, doch ich spüre die Symptome. Beschleunigter Herzschlag, rasches Atmen, eine übervorsichtige Nervosität. Das ist nicht gut.
Aber jetzt gibt es kein Zurück mehr.
Der Wintergarten steht immer noch leer. Ich muss den Drang unterdrücken, zum Klavier rüberzugehen und ein Liedchen zu spielen, um ein bisschen Leben in die Bude zu bringen. Selbstverständlich kann ich mich beherrschen. Nach wie vor sind nirgendwo Noten zu sehen, und so langsam beschleicht mich der Verdacht, dass Penry überhaupt nicht Klavier spielen kann. Ein Musikzimmer ohne Musik. Ein Wintergarten ohne Pflanzen.
Das Wohnzimmer sieht ebenfalls unverändert aus. Der DIE POLIZEI BITTET UM IHRE MITHILFE -Flyer liegt gefaltet auf dem Tisch. Ich falte ihn wieder auf, damit er ihm gleich ins Auge fällt, und ziehe mit einem Kugelschreiber einen Kreis um die Telefonnummer, die man anrufen muss, wenn man sachdienliche Informationen hat.
Neben der Stereoanlage in der Ecke hängt ein Handy am Ladekabel. Aha! Vielen Dank, zu freundlich. Ich stecke das Handy in die Tasche und sehe mich um, ob es noch etwas anderes gibt, das mitzunehmen sich lohnt. Nichts. Keine Papiere. Kein Tagebuch oder Taschenkalender oder Adressbuch. Auf dem Schreibtisch liegt nicht besonders viel. Ein paar Computerkabel, ein Notizblock, eine Tasse mit Stiften, Telefonbücher. Die einzige Schublade ist verschlossen.
Wahrscheinlich ist der Schlüssel zur Schublade irgendwo hier, und wahrscheinlich liegen in der Schublade sehr interessante Dinge, aber ich bin mit meinen Nerven am Ende. Jetzt hat mich die Angst so richtig eingeholt, und ich will weg von hier. Und das möglichst geräuschlos, um das Ungeheuer nicht zu wecken.
Ich verschwinde so schnell und leise, wie ich kann. Ich sperre wieder ab und lege den Schlüssel an die Stelle zurück, an der ich ihn gefunden habe. Erst als ich wieder im Auto sitze, fühle ich mich einigermaßen sicher, und ich muss erst zehn Minuten durch die Gegend fahren, bevor ich den Mut aufbringe, mit meinem neuen Spielzeug zu spielen. In der Adressliste entdecke ich sechsundzwanzig Einträge, die ich in mein Notizbuch übertrage. Keine empfangenen oder gesendeten SMS . Ich versuche, die Mailbox abzuhören, und werde aufgefordert, eine PIN -Nummer einzugeben. Ich versuche es mit 0000, mit 1234, dann mit 9999, und schließlich ist der Zugriff gesperrt. Wie blöd von mir – vielleicht hätte ich sein Geburtsdatum, den 4. Mai – 0405 –, eingeben sollen. Das Ladegerät habe ich auch nicht mitgenommen. Na ja, egal. Sechsundzwanzig Telefonnummern sind ja schon mal ein Anfang.
Ich fahre nach Hause und mache mir einen Pfefferminztee. Bach scheint mir für die augenblickliche Situation etwas fade, daher lege ich No Angel von Dido auf. Nicht gerade die coolste Platte aller Zeiten, aber in puncto coole Musik ist bei mir sowieso Hopfen und Malz verloren. Ich finde es schon herausfordernd genug, ganz normale Musik zu hören. Vollständig angezogen springe ich wieder ins Bett – nur den Rock lege ich vorher ab –, während Dido unter mir loslegt. Hau rein, Mädel.
Sechsundzwanzig Telefonnummern und ein ganzer Tag, um sie alle durchzuprobieren.
Als Erstes rufe ich die Festnetznummern an. Ich werde mich als Dame vom
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