Totenklage
die Fotos von Maya, und diesmal fällt mir ein, worauf ich vorhin nicht gekommen bin. Ich muss über mich selbst lachen. Wie blöd kann man denn sein?
Auf der Rückfahrt halte ich mich zur Abwechslung an die Geschwindigkeitsbegrenzung. Ein neuerlicher Regenguss färbt die Straße vor mir schwarz. Ich habe die Cello-Suiten von Bach aufgelegt und spiele sie laut genug, damit sie das Geräusch der Scheibenwischer übertönen. Ich wünschte, ich könnte noch ein bisschen länger fahren.
Immerhin erwarten mich zu Hause keine Escallonia – aber sonst auch nichts Aufmunterndes. Mein Haus ist eher magnolienfarben. Magnolie, Weiß und rostfreier Stahl. Das gefällt mir auch nicht.
Die sechsfache April grinst mich an, als ich den Käse in den Kühlschrank stelle. Ich hole mir ein Glas Wasser und setze mich ihr gegenüber.
Endlich habe ich herausgefunden, was im Vergleich zu den Maya-Fotos an den Bildern von April so komisch ist. Alle Fotos, die ich mir von April habe ausdrucken lassen, stammen vom Tatort. April, der der halbe Kopf fehlt. April mit einem Lächeln, aber ohne Augen. Sechs kleine tote Aprils und keine einzige lebende kleine April. Ich habe eine Ewigkeit gebraucht, bis mir aufgefallen ist, dass alle Bilder die tote April zeigen.
Ich lächle und spüre, wie sie mit mir lächelt. Ein siebenfaches Lächeln. Ich trotte die Treppe hinauf, lasse Wasser in die Wanne und gönne mir ein langes Bad, währenddessen ich mich frage, ob ich die Bilder abnehmen soll oder nicht und ob ich die Fotos mit dem Partykostüm, dem Strand oder dem kandierten Apfel dazuhängen soll.
Diese Entscheidung verschiebe ich auf später. Wahrscheinlich lasse ich alles so, wie es ist. Die Toten machen mir nichts aus. Sie sind ja nicht diejenigen, die Ärger machen.
19
Ich wache um kurz nach sechs auf. Das ist immer noch zu früh, aber zumindest bin ich drauf vorbereitet. Ich schleiche im Morgenmantel nach unten, mache mir Tee und Cornflakes und frühstücke im Bett. Weil es zu still im Haus ist, hole ich – immer noch im Morgenmantel – die Bach- CD aus dem Auto und stelle die Musik so laut, dass ich sie auch oben im Bett noch hören kann. Ein gemütlicher Sonntagmorgen, nur irgendwie alles drei Stunden zu früh.
Ich lasse mir die Unterhaltung mit Jackson noch mal durch den Kopf gehen. Er hat natürlich recht. Von meinen Verdächtigen ist einer tot, und der andere wandert sowieso ins Gefängnis. Außerdem glaube ich nicht, dass einer von beiden tatsächlich die Mancinis oder Edwards ermordet hat. Aber irgendwie hängen sie mit drin. Ich habe nicht nur einen toten und einen so gut wie verurteilten Verdächtigen, mir fehlt auch ein Verbrechen, mit dem ich sie in Verbindung bringen könnte. Ich kann mich nicht mehr an jedes Wort aus der Polizeiausbildung erinnern, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass erst ein Verbrechen stattfinden muss, bevor man anfangen darf, Leute zu verhaften – egal, ob sie noch leben oder nicht.
Das Problem ist, dass meine Intuition dem üblichen Vorgehen bei einer Polizeiermittlung komplett zuwiderläuft. Da gibt es diesen alten Witz über die irische Erstbesteigung des Mount Everest. Die Iren haben es nie geschafft, weil ihnen irgendwann das Material für das Gerüst ausgegangen ist. Haha. Aber dieser Witz beschreibt ziemlich genau, wie wir Polizisten den Mount Everest besteigen würden. Nur mit dem Unterschied, dass wir ewig an dem Gerüst bauen könnten, wenn wir wollten. Wir machen einfach weiter, Eisenstange für Eisenstange, Brett für Brett. Zeugenvernehmungen. Aussagen. DNA -Analysen. Fingerabdrücke. Eine Million verschiedener Daten. Tausende von Stunden geduldiger, mühsamer Analysearbeit. Erbarmungslos, methodisch und unweigerlich zum Ziel führend. Eines Tages, wenn die frierenden Finger ein weiteres Brett auf das Gerüst legen, bemerkt man plötzlich, dass man den Berg überwunden hat. Dass man direkt im Schein der Sonne steht. Den Gipfel erreicht hat.
Genau so plant Jackson seine Bergbesteigung. Und früher oder später wird er den Mörder auch erwischen.
Und ich? Ich habe ihm keine Versprechungen gemacht. Als er das gute, altmodische Ja hören wollte und damit Gehorsam verlangt hat, habe ich mit einer Gegenfrage geantwortet. Ich finde, dass mir deshalb ein kleines bisschen Eigeninitiative gestattet ist. Außerdem ist er ein gerissener alter Hase. Vielleicht ist er ganz glücklich mit dieser Lösung. Wie dem auch sei, was zählt, ist die Gegenwart.
Und es zählt nur die Gegenwart, sonst nichts.
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