Totenklage
aufzutreiben. Eigentlich gehört sie ins Krankenhaus.«
Ich bin erleichtert, da ich allein mit Ioana reden wollte, aber nicht wusste, wie ich ihr das klarmachen sollte.
Zurück ins Wohnzimmer. Ich setze mich neben Ioana. Sie sieht mich an – große, dunkle osteuropäische Augen, die das Schönste an ihr sind –, und ich erwidere ihren Blick. Wir schweigen. Sie braucht weder einen Arzt noch ein paar neugierige Polizistinnen – sie braucht eine Zeitmaschine, die sie in das Jahr zurücktransportiert, in dem sie acht oder neun war. Oder noch früher. An den Zeitpunkt ihrer Geburt. Sie bräuchte andere Eltern, eine andere Erziehung, eine andere Vergangenheit. Sie sollte auf einem ganz anderen Planeten ein ganz anderes Leben führen. Egal, wie man die Zeichen deuten will – alles scheint auf ein tragisches Ende hinauszulaufen.
Durch die Wand hören wir, wie Jane mit der Dienststelle telefoniert und einen Arzt für einen Hausbesuch organisiert. So wird das gemacht auf jenem Planeten der normalen Menschen. Ganz im Gegensatz zu der Welt, in der Ioana lebt.
» Sie schlagen sich sehr tapfer«, sage ich. » Jane treibt gerade einen Arzt für Sie auf. Er wird bald bei Ihnen sein.«
» Dank’ schön.«
» Sie können ihm vertrauen. Lassen Sie ihn unbesorgt rein.«
» Okay.«
» Können Sie mir noch mehr über Karol Sikorsky sagen? Wo er wohnt? Wie seine Freunde heißen? Irgendetwas?«
Sie schüttelt den Kopf und wendet sich ab. Ich will nicht weiter nachhaken. Stattdessen zeige ich ihr eine meiner Visitenkarten und schreibe meine Handynummer auf die Rückseite.
» Das ist meine Nummer. Ich heiße Fiona. Sie können mich jederzeit anrufen. Wenn Sie mir noch irgendetwas erzählen möchten – vielleicht über die Männer, die Sie zusammengeschlagen haben –, dann rufen Sie mich an, okay? Ich lege die Karte hier drunter.«
Ich schiebe die Visitenkarte unter das Sofakissen, damit sie weiß, wo sie ist, sie aber von neugierigen Augen nicht entdeckt werden kann. Es wäre besser für Ioana – und für mich –, wenn Sikorskys Schlägertrupp sie nicht findet.
» Wir müssen gehen«, sage ich. » Soll ich Ihnen noch irgendwas aus der Küche bringen?«
» Nein, dank’ schön. Alles okay.«
» Wollen Sie fernsehen? Hier. Da liegt die Fernbedienung.« Ich gebe ihr die Fernbedienung, dann gehe ich neben ihr in die Hocke und nehme ihre Hand. » Das haben Sie sehr gut gemacht. Sie waren sehr tapfer. Sie haben vielen Menschen geholfen.« Das klingt jetzt ganz so, als würde ich mir keine großen Hoffnungen machen, dass sie die Sache überlebt. Tue ich möglicherweise auch nicht. Sie nimmt meine Hand und lächelt. Vermutlich hat man ihr noch nicht oft gesagt, dass sie etwas gut gemacht hat.
Dann habe ich einen spontanen Einfall. » Ioana, darf ich Ihnen noch eine letzte Frage stellen? Haben Sie schon mal von einem Mann namens Brendan Rattigan gehört?«
Keine Ahnung, welche Antwort ich erwartet habe. Schließlich ist Rattigan nicht mehr am Leben. Klar, Penry und Rattigan steckten unter einer Decke, und Rattigan hat irgendwie mit den Lohan-Morden zu tun. Wahrscheinlich habe ich Ioana nur gefragt, weil ich endlich wissen will, wie diese verdammte Kreditkarte in Janet Mancinis Haus kam. Nur so aus Neugier.
Und nun zeigt sich wieder einmal, dass man einfach nur die richtigen Fragen stellen muss.
Ioana versucht, sich aufzusetzen, was die gebrochenen Rippen jedoch verhindern. Sie schreit vor Schmerzen auf. Jane hat ihr Gespräch beendet und öffnet die Tür, um nachzusehen, was hier vor sich geht. Und dadurch verhindert sie, dass Ioana etwas sagt – wenn sie überhaupt etwas sagen wollte. Sie schweigt. Während der Vernehmung war sie sehr tapfer. Aber jetzt besteht ihre Miene nur noch aus Schock, Angst und Leid.
Jane und ich starren uns an.
» Können Sie mir etwas über ihn sagen, Ioana? Irgendetwas?«
Schlechte Befragungstechnik. Zu unspezifisch. Zu vage. Ioanas schreckgeweitete Augen und ein langes, pendelndes Kopfschütteln sind die einzigen Antworten, die ich erhalte. Ich weiß nicht, ob das Nein, ich sage nichts oder Nein, er ist nicht tot heißen soll. Kommt mir wie beides vor. Dann ist der Augenblick vorüber, und Ioana zieht sich in ihre eigene Welt zurück, verschlossen und distanziert.
Wir verabschieden uns und gehen.
Die Straße wirkt wie auf einem anderen Planeten. Etwas schmutzig, aber sonst ganz normal. Eine Straße, auf der Frauen nicht zu Brei geschlagen und eingeschüchtert werden. Die Wolken, die mir
Weitere Kostenlose Bücher