Totenklage
deshalb so furchtbar wichtig, weil wir jetzt einen Vorwand haben, um Karol Sikorsky verhaften zu können. Verdacht auf Mord an Stacey Edwards und April Mancini. Eine große Sache. Zum ersten Mal scheint es so, als wären wir kurz davor, den Fall zu lösen. Ohne ausreichende Begründung darf niemand verhaftet werden. Und eine DNA -Spur sowie eine kriminelle Vergangenheit sind nun mal kein hinreichender Tatverdacht. In Kombination mit Ioana Balcescus Aussage allerdings schon. Sobald wir den Haftbefehl haben, können wir auch einen Durchsuchungsbefehl anfordern. Mit Glück und etwas Rückenwind könnte das schon ausreichen, um den Fall zu knacken. Im Büro herrscht wieder hektische Betriebsamkeit, und Jane und ich sind die Heldinnen des Tages.
Es ist schon fast sieben Uhr, als ich fertig bin. Ich mache mich auf die Suche nach Brydon, um zumindest ein paar Minuten sein mehr als freundliches Gesicht zu sehen, aber er ist nicht da. Bei diesen großen Fällen sind immer alle irgendwo unterwegs oder zu beschäftigt für ein kleines Schwätzchen.
Also packe ich zusammen und fahre nach Hause. Schon bald wird mir klar, dass ich dort nicht bleiben kann. Das Kribbeln, das mich schon letzte Woche heimgesucht hat, ist inzwischen ein ständiger Gast. Wie heißt dieser Gast? Angst. Es ist Angst. Ich lasse mir diesen Begriff durch den Kopf gehen. Ich weiß nicht, ob er passt oder nicht. Noch schlimmer ist, dass ich meine Zehen und Fersen kaum spüren kann, wenn ich auf den Boden stampfe. Wenn ich mit der Hand auf den Küchentisch klopfe oder eine Messerspitze berühre, scheinen mich diese Sinneseindrücke wie aus weiter Entfernung zu erreichen. So weit entfernt wie uralte Nachrichtensendungen in Schwarzweiß oder verzerrte Stimmen am Telefon. Ich werde immer tauber, sowohl physisch als auch emotionell, und das ist nicht gut. Das ist der Anfang vom Ende. So fängt es immer an.
In solchen Situationen darf ich nicht lange fackeln. Das habe ich inzwischen gelernt. Ich rufe Mam an und sage ihr, dass ich auch heute Abend bei ihnen schlafen würde, wenn das okay ist. Natürlich, sagt sie, komm gleich rüber. Ich packe meinen Kram zusammen und mache mich abfahrbereit.
Vorher sehe ich mir die Fotos von April noch mal an. Die kleine April, tot. Mit einem Spülbecken an der Stelle, an der sich ihr Gehirn befinden sollte. Ein sechsfaches Grinsen und ein Geheimnis, das ich nicht lüften kann. Ich verbringe nicht viel Zeit mit ihr. Jetzt brauche ich Schlaf und geistige Gesundheit. Und beides ist gerade Mangelware.
26
Zwei glückliche Tage lang geht das Leben seinen gewohnten Gang. Viel Arbeit, Mittagessen in der Kantine, Bürogespräche. Anstrengend, aber so gefällt’s mir.
Allerorten ist man der Meinung, dass man mit Operation Lohan entscheidend vorangekommen ist. Mit Sikorsky in Zusammenhang stehende Personen wurden ausfindig gemacht und befragt. Laut Dave Brydon, der zwei dieser Befragungen durchgeführt und sich bei denen umgehört hat, die die anderen Zeugen verhört haben, gehören Karol Sikorskys Spießgesellen nicht unbedingt zu den Leuten, die man zur Geburtstagsparty seiner Tochter einlädt. Zunächst befragte Brydon einen gewissen Wojciech Kapuscinski. » Ein echt fieser Bursche. Gefährlich, wenn ihr mich fragt. Er hat ein paar KV s auf seinem Konto« – Körperverletzung, ein relativ harmloses Delikt –, » und das ist bestimmt noch nicht alles.«
Das glaube ich Brydon aufs Wort. Kapuscinskis Foto und Daten sind auf Groove einsehbar. Zu den Körperverletzungen gesellt sich außerdem illegaler Waffenbesitz. Genau der Typ, der für das organisierte Verbrechen die Drecksarbeit erledigt. Hartes Gesicht, schmale Augen, rasierter Schädel, Lederjacke. Ein Körper, der auf Gewichtheben und den völligen Verzicht auf Gemüse schließen lässt. Er sieht aus wie ein fülliger, jedoch muskulöser Türsteher.
Brydon und Hughes führten die Vernehmung gemeinsam durch – erfolglos. » Der Arsch hat uns rein gar nichts erzählt. Haben wir aber auch nicht erwartet. Seltsamerweise hatte er weder ein Alibi noch hat er abgestritten, dass er Sikorsky kennt.« Brydon spricht es nicht aus, da es sonnenklar ist: Ein solcher Fall wird nicht gelöst, weil ein hartgesottener Gangster plötzlich zusammenbricht und auspackt. Man muss Druck ausüben: eine unbedachte Bemerkung hier, die Bilder einer Überwachungskamera dort. Ein Telefonanruf. Möglicherweise neue Beweise aus der Gerichtsmedizin. Man hofft, dass man irgendwann genug zusammengekratzt
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