Totenkönig (German Edition)
gleichzeitig zu fassen. Der Mann war von hagerer Statur, seine Haut glänzte nass vor Schweiß im heißen Schein der Morgensonne. Er atmete röchelnd, schüttelte ungläubig den Kopf, blickte abwechselnd in die Gesichter von beiden Unsterblichen. Raubtieraugen waren das letzte, was er sah.
„Narren“, knurrte Larkyen, als er mitbekam, wie die letzten vier Ratsmitglieder die Treppen zur Kathedrale hinaufrannten und das Tor öffneten.
Die fünf Geister des Totenheers handelten rasch, und alles was g eschah, sah Larkyen durch ihre Augen. Die Majunay, die Zhymaraner und Wanar erkannten die zwei Männer und die zwei Frauen nicht, die in zerlumpten und blutdurchtränkten Kleidungsstücken die Kathedrale des Fleisches betraten. Der Zhymaraner Almaran hielt sie sogar für Flüchtlinge. Die Geister bewegten sich auf die Ratsmitglieder zu, die Finger toter, schemenhafter Hände gruben sich in ihr Fleisch. Eine Frau jedoch entging dem Angriff, indem sie auszuweichen versuchte und schließlich ins Taumeln geriet und stürzte. Sie blickte panisch um sich, während sie über den Boden rollte. Ihr Blick haftete plötzlich auf Zaira.
„Ich erkenne dich“ zischte sie der Tochter Khorgos entgegen, und tiefste Verachtung schwang in ihrer Stimme mit. „Zaira“ Sie bäumte sich auf, zog in der Bewegung ein Messer und rammte die Klinge bis zum Ansatz in Zairas Brust. Und noch bevor das letzte Ratsmitglied den entsetzten Aufschrei von Khorgo hören konnte, war sie von Ge isterhänden ergriffen worden und starb noch im selben Moment.
Khorgo hielt seine Tochter in den Armen und stützte sie, ganz lan gsam sank er mit ihr zu Boden. Fortwährend sah er in ihre Augen. „Nein“, keuchte er. „Nein, Kind, das darf nicht geschehen.“
Larkyen und Patryous betraten die Kathedrale. Sofort eilten sie zu Zaira. Patryous untersuchte die Wunde.
„Der Stich hat ihr Herz nur knapp verfehlt“, stellte sie fest. Doch in ihrem Gesicht breitete sich ein Ausdruck von Bedauern aus.
„Die Wunde blutet so stark“, rief Khorgo. Die Farbe schwand aus Zairas Gesicht, sie sah ihren Vater noch kurz an und stieß ein leises Seufzen aus, dann schlossen sich ihre Augen. Tränen rannen über Khorgos Wangen. Hilfesuchend sah der alte Krieger die Unsterbliche an.
„Es ist zu spät“, flüsterte Patryous. „Sie wird verbluten, und niemand kann etwas dagegen unternehmen. Es tut mir leid.“
„Nein“, keuchte Larkyen.
Khorgo drückte seine Tochter fest an seine Brust und schrie auf, bis seine Stimme brach. Er sank neben ihr in der Pfütze ihres Blutes zusammen und weinte.
Momente wie dieser waren der Grund, warum Larkyen sich danach sehnte, den Tod besiegen zu können. Zu oft hatte er den Schmerz von Freunden erleben müssen, zu oft hatte er selbst mitansehen müssen, wie jene, die er liebte, starben. Und nach all den Kämpfen, die er und Patryous seit ihrer Einreise in die Stadt hatten ausfechten müssen, würde Zaira das neue Kapitel der Stadtgeschichte, das im Namen von Frieden und Freiheit aufgeschlagen worden war, nicht mehr erleben können.
Er hörte Zairas Herz, wie es nur noch schwach schlug, vernahm die Atemzüge, von denen jeder ihr letzter sein konnte. Und er hörte das Schluchzen seines Freundes Khorgo.
Larkyen fühlte sich so hilflos, er konnte nur zusehen und warten, bis das Unvermeidliche eintrat. Worte konnten nicht im entferntesten Trost spenden, also schwieg er.
Larkyen, Patryous und die anderen ließen Khorgo allein, damit der alte Krieger in Ruhe Abschied nehmen konnte. Keiner von ihnen sprach ein Wort. Es war, als hätten die Bestürzung, die Trauer, das Einsicht, dass der lange Kampf um Zairas Leben vergeblich gewesen war, von ihnen Besitz ergriffen und ihre Lippen versiegelt.
Vor der Kathedrale zogen Menschenmassen vorbei. Sie gingen in Richtung des Stadtzentrums, aus dem sie in der vergangenen Nacht noch geflohen waren. Die meisten von ihnen waren verwundet, ma nche wurden auf Bahren getragen. Für den Geruchssinn von Larkyen und Patryous erfüllten sie die Luft mit Blut.
Auch einige Soldaten waren unter den vorbeiziehenden Meridi anern. Einer von ihnen wurde von zwei anderen gestützt. Er rief Wanars Namen. Die Soldaten hielten an, sie nickten Wanar zu.
„Ich erkenne dich wieder“, rief ein älterer Soldat mit grauem Haar. Eine Schnittwunde hatte sein stoppelbärtiges Gesicht veru nstaltet. Als Wanars gesunde Hand instinktiv zum Schwert griff, rief der Soldat: „Halte ein, bitte! Es ist Frieden
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