Totenkünstler (German Edition)
von der Straße zu holen und dafür zu sorgen, dass sie nicht wieder abrutschte. Ein paar der Frauen, die sie betreut hatte, hatten sogar gute Jobs gefunden, eine Familie gegründet und sich ein neues Leben aufgebaut, fernab von Ausbeutung und Sucht. Diese Fälle waren es, die alle Mühe aufwogen.
Eleesha stieg in die U-Bahn und suchte sich einen Platz im hinteren Teil des Wagens. Zwei Plätze rechts von ihr saß ein attraktiver Mann um die dreißig im marineblauen Anzug. Er hielt einen Pappbecher mit Kaffee in der Hand, der so riesig war, dass er vermutlich mehrere Liter fasste. Als Eleesha sich hinsetzte, nickte er ihr freundlich zu. Sie erwiderte den Gruß und ließ ein Lächeln folgen. Der Mann wollte zurücklächeln, als er die Narbe auf ihrer Wange bemerkte. Hastig wandte er den Blick ab und tat so, als suche er etwas in seiner Aktentasche.
Eleeshas Lächeln erlosch. Sie konnte schon nicht mehr zählen, wie oft ihr das passiert war. Sie tat so, als würde es ihr nichts ausmachen, aber tief in ihrem verletzten Innern bildete sich jedes Mal eine neue Wunde.
In Lakewood, der nächsten Station, stiegen mehrere Leute zu. Eine junge Frau setzte sich Eleesha gegenüber. Sie trug einen hellbraunen Hosenanzug, beigefarbene Wildlederpumps mit flachen Sohlen und hatte einen Aktenkoffer aus Leder bei sich. Der Mann neben Eleesha hatte seinen Kaffee ausgetrunken, und nachdem er sich die Krawatte zurechtgerückt hatte, schenkte er der Frau sein strahlendstes Lächeln. Die Frau jedoch nahm ihn nicht einmal wahr, sondern holte, kaum dass sie sich gesetzt hatte, eine Tageszeitung aus ihrem Aktenkoffer. Eleesha konnte sich ein Schmunzeln nicht verkneifen.
Während die Frau es sich bequem machte und sich in ihre Zeitung vertiefte, erregte etwas auf der Titelseite Eleeshas Aufmerksamkeit. Sie kniff die Augen zusammen, um die Schlagzeile entziffern zu können. TOTENKÜNSTLER FORDERT DRITTES OPFER. Eleesha beugte sich ein Stück nach vorn und schaute noch angestrengter hin. Im ersten Absatz des Artikels war von einem sadistischen Serienmörder die Rede, der seinen Opfern Arme und Beine ausgerissen und groteske Skulpturen aus Menschenfleisch am Tatort zurückgelassen hatte. Möglicherweise seien auch Kannibalismus und schwarzmagische Rituale im Spiel gewesen. Eleesha verzog angewidert den Mund, las aber weiter.
Bei der nächsten Zeile wirbelten die Erinnerungen durch ihren Kopf wie ein Tornado.
Nein , dachte sie, das kann er unmöglich sein .
Erst jetzt sah sie die Fotos unterhalb der Textspalten. Ihr Herz fing an zu stottern, und jeder Zweifel löste sich in Luft auf.
85
»Haben Sie das Geschmiere hier gesehen?«, ereiferte sich Captain Blake, als sie in Hunters und Garcias Büro gestürmt kam. Dazu wedelte sie mit einer Ausgabe der LA Times .
Sowohl Hunter und Garcia als auch Alice Beaumont hatten den Artikel bereits gelesen. Altbewährten Praktiken des Sensationsjournalismus folgend, hatte die LA Times sogar einen Spitznamen für den Mörder erfunden. Sie nannte ihn – durchaus treffend – den »Totenkünstler«.
Es gab auch Fotos, insgesamt vier. Eins zeigte das Gebäude, in dem Nathan Littlewoods Leiche aufgefunden worden war, die anderen drei waren Porträts der Mordopfer. Der Artikel schloss mit der Bemerkung, dass, selbst nachdem »drei hochangesehene Mitbürger« (ein Staatsanwalt mit Krebs im Endstadium; ein ehemaliger Detective; ein Psychotherapeut) einem der bestialischsten Killer zum Opfer gefallen waren, die die Stadt Los Angeles in den letzten Jahrzehnten gesehen hatte, die Polizei immer noch im Dunkeln tappe wie ein Rudel nachtblinder Hunde. Es gebe keinerlei handfeste Hinweise.
»Ja, haben wir«, antwortete Hunter.
»Nachtblinde Hunde?« Blake schleuderte die Zeitung auf Hunters Schreibtisch. »Herrgott noch mal, haben die überhaupt ein Wort von dem verstanden, was wir ihnen gestern auf der Pressekonferenz gesagt haben? Die stellen uns als inkompetente Trottel hin. Und das Schlimmste ist, dass sie recht haben. Drei Mordopfer in zwei Wochen, und wir haben – Schattenfiguren!« Captain Blake drehte sich zu Alice um. »Und wenn Sie mit Ihrer Deutung der zweiten Skulptur richtigliegen, gibt es jetzt ein Opfer weniger auf der Liste. Mit anderen Worten, es ist nur noch eins übrig.« Sie strich sich mit beiden Händen die Haare hinter die Ohren und holte tief Luft. »Gibt es schon irgendeine Verbindung zwischen dem dritten Opfer und den ersten zwei?«
»Nein«, sagte Alice. Sie klang ziemlich
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