Totenkult
hinterher und stieß sich sofort den Kopf an einem herabhängenden Dachsparren.
»Au, verdammt.«
»Vorsicht, hier liegen überall Glassplitter.« Cesario zeigte auf den Boden, der wie mit Schnee bedeckt aussah. »Da vorn geht’s zum Refektorium. Und dahinter«, er holte tief Luft, »dahinter liegt die Felsenkapelle.« Seine Stimme klang rau.
Die Felsenkapelle. Bosch hatte sie auf den alten Plänen gesehen. »Da gibt’s doch gar keinen Zugang.« Führte Cesario ihn absichtlich in die Irre? Neugierig und wieder einmal ohne nachzudenken, war er diesem Fremden gefolgt. Abrupt blieb Bosch stehen.
Cesario, der schon ein paar Schritte voraus war, drehte sich um. »Was ist?«, drängte er. »Dahinten ist die Felsenkapelle.« Etwas Lockendes schwang in seiner Stimme.
Auf einmal war Bosch hellwach. Die Nebel in seinem Kopf verflüchtigten sich, die Anstrengung der letzten Stunden fiel von ihm ab. Fast fühlte er das Adrenalin, das ihn wie ein Tier die Gefahr spüren ließ.
»Ich muss ein wenig rasten«, sagte er.
Cesario verlagerte sein Gewicht auf ein Bein und schien sich in Geduld zu fassen. Seine Hand war immer noch in den Haarschopf des mumifizierten Kopfes gekrallt. Er klammerte sich an die Kopftrophäe wie an einen Talisman.
Bosch stand an einer Wand des Ausstellungsraums und ließ den Blick über die zerstörte Sammlung wandern. Zwischen den Glasscherben auf dem Boden lagen zerbrochene Tonfiguren. Ein zu einer grotesken Skulptur geschmolzener Plastikkörper stand zwischen zwei Fenstern. Verschmorte Federn lagen zu seinen Füßen, die Überreste eines der vielen ausgestopften Paradiesvögel. Zu Boschs Linken hockte der balinesische Affengott auf seinem Podest. Wie durch ein Wunder hatte ihn das Feuer verschont. Nur das Weiß seines Fells war ergraut, und das Gold des Säbels, den er über dem Kopf schwang, war vom Rauch stumpf geworden.
»Und?«, rief Cesario.
Hinter dem Rücken der Affenfigur hockten schwarze Schatten. Zu ihren Füßen lag wie eine Opfergabe an den Affengott ein weißer Stoffballen.
»Gleich.« Bosch schaute unschlüssig zu Cesario. Da bemerkte er aus dem Augenwinkel eine Bewegung. Er konnte einen Schrei nicht unterdrücken.
»Was ist?« Cesario kam auf ihn zu.
Der Stoff auf dem Boden rührte sich. Es war eine blonde Frau in einem hellen Kleid. Langsam und stumm streckte sie die Hand nach Bosch aus. Es war Frau Aschenbach.
»Was …?« Glasbruch knirschte.
Frau Aschenbach fing an zu zittern und versuchte vergeblich, sich auf die Ellenbogen zu stützen. Sie gab einen Schmerzenslaut von sich.
Cesario trat neben Bosch und starrte auf sie hinab. »Dios«, sagte er und schlug ein Kreuz.
Die Aschenbach wandte ihr rußverschmiertes Gesicht nach oben. Stumpf ruhte ihr Blick auf dem dunklen Gesicht des jungen Mannes. Dann weiteten sich ihre Augen, sie hatte Cesario erkannt. Sie riss den Mund auf, als wollte sie schreien, aber kein Laut kam über ihre Lippen. Cesario bekreuzigte sich mehrmals.
Bosch stieß Cesario beiseite und kniete sich auf den Boden. Glasscherben schnitten durch den Stoff seiner Hose. »Frau Aschenbach«, sagte er. »Beruhigen Sie sich. Alles wird gut.«
Als Antwort fing sie an, hysterisch mit den Armen über den Boden zu rudern. Ihre Haut und ihr Kleid färbten sich rot.
Bosch packte ihre Handgelenke. »Hören Sie mich?« Er schaute hoch zu Cesario, der schon wieder ein Kreuz schlug.
»Dios, la señora …«
»Lauf zu, Junge, und hol endlich Hilfe, verdammt«, blaffte Bosch ihn an. »Wir brauchen einen Krankenwagen. Kapiert?«
»Si, señor«, sagte Cesario und rührte sich nicht vom Fleck. Er presste sich den grässlichen Schrumpfkopf an die Brust. Auf einmal vergrub er sein Gesicht in dem schwarzen Schopf, sodass sein Haar mit dem des Toten verschmolz. Dann fing er an zu weinen.
»Cesario!« Bosch hätte ihn packen und schütteln mögen. Aber er hatte keine Hand frei. »Lauf endlich!«
Cesario hob den Kopf. Sein Gesicht war tränennass und glänzte wie in Bronze gegossen. Aber er lächelte. Mit der rechten Hand fuhr er sich unter der Nase entlang. Bosch fiel auf, wie jung er war. Nicht älter als die Kinder, die in seinen Vorlesungen saßen. Cesario schniefte, dann griff er in die Tasche seiner Jeans, zog ein Handy hervor und reichte es Bosch. »Bitte.«
Zögerlich ließ Bosch Frau Aschenbach los. Sie bewegte sich nicht mehr. Angesichts ihrer Helfer hatte sie das Bewusstsein verloren. Bosch stand mühsam auf, tippte die 112 und schilderte ihre Lage. Dann
Weitere Kostenlose Bücher