Totenkuss: Thriller
hatte nicht recht gewusst, was der Umstand, in was für
Schulen beide gingen, mit Petras Tod zu tun hatte. Sie verließen den Tunnel,
Anita machte das Radio wieder an. Ein Jugendsender spielte Hip-Hop. Anita sah
in den Rückspiegel. Sie wurden von einem ehrgeizigen Bestattungsunternehmer mit
Freudenstädter Kennzeichen überholt, der seinen violetten Opel ohne zu blinken
auf die linke Spur zog. An der Seite stand in silbernen Lackbuchstaben
›Bestattungsunternehmen F. Fix & Söhne‹, am Heck ergänzt von der
Internetadresse www.fix-bestattungen.de.
Petra schob sich eine Strähne aus dem Gesicht. »Du kannst
dich also noch gut an sie erinnern?«
Fehrle wurde schwindlig. Er spürte, wie sein Herz blubberte.
Es schlug flach und unregelmäßig, als entwiche ihm blasenweise Luft.
»Petra ist so alt wie du!« Anita schien von seiner Schwäche
nichts zu bemerken.
Automatisch ging er auf Distanz. »Nein. Sie ist 1969 geboren,
im Frühjahr.«
Anita warf ihm einen komischen Seitenblick zu. »Und du Ende
1968. Da wart ihr doch zusammen in der Grundschule. Ein Jahrgang. Es muss euch
alle traumatisiert haben.«
Ich bin Polizist geworden, dachte Fehrle. Was will sie denn
noch. Er versuchte, die Sache in der Erinnerung herunterzuspielen, Petras
Verschwinden plausibel zu machen. »Wieso? Wir haben halt geglaubt, sie ist
abgehauen, nach Amsterdam oder vielleicht nach Indien. Sie trampte dauernd
durch die Gegend und schwänzte tagelang die Schule.«
Wir waren 15. Sie hat an der Bushalte eine Kippe für mich
gedreht, dachte er. Und ich Trottel hab sie geraucht, obwohl ich fast kotzen
musste. Sie fand das irrsinnig witzig. Das war das Erste, was ihm einfiel, wenn
er an Petra dachte. Er sah ihr lachendes Gesicht vor sich, die Sommersprossen,
die tanzten. Auf ihrer Nase sprangen die Sommersprossen fröhlich auf und ab.
Fehrle kniff die Augen zu. Er schnaufte und spürte das Pollenasthma. Er bekam
keine Luft.
»Wie war sie sonst so?« Wieder sah ihn Anita seltsam von der
Seite an.
Fehrle schaute hinaus. Auf Wiesen und Wälder. Grün flog
vorbei. »Petra Clauss war das Mädchen mit dem Mittelscheitel. Dunkelblonde,
schulterlange Haare. Sie waren immer frisch gewaschen.«
Anita grinste. »Verstehe. Sie glänzten seidig und waren sanft
nach innen gewellt. Petra war ein kleiner Engel.«
»Nein. Sie hatte ein Häschengesicht und die Oberlippe von
Julia Roberts.«
Anita merkte, dass er auswich, und wurde zickig. »Die kannst
du doch Anfang 80 gar nicht gekannt haben. ›Pretty Woman‹ lief erst Jahre
später.«
Fehrle blieb stur und überging den Einwand. »Petra gehörte zu
den Mädchen, die man nicht kriegen konnte.« Trotzdem hatte er von ihr den
ersten Zungenkuss bekommen. Beim Flaschendrehen. Auf einer Fete. Sie küsste ihn
mit eilfertiger Verachtung. »Höhere Tochter halt. Ihr Vater war Zahnarzt. Sie rächte
sich. Sie rauchte Selbstgedrehte und zog sich verrückte Klamotten an. Sie war
ein echter Freak.«
»Sie gehörte zu den Leuten, die mit lila Latzhose,
marokkanischer Hirtenjacke und Jagdtasche herumliefen?« Anita lachte nicht.
»1984 war das out. Sogar im hintersten Zipfel vom Schwarzwald.«
Fehrle fiel dazu nichts ein.
»Petra hat gegen ihre Eltern rebelliert. Erst mit schlechten
Schulnoten, dann mit völliger Schulverweigerung. Sie hat die Anpassung
verweigert. Jede Anpassung. Als Motiv reicht das zwar noch nicht, aber ganz
sicher hatte sie Feinde. Bestimmt haben sie viele zum Teufel gewünscht.« Anita
versuchte, sich einzufühlen, und blickte dabei stur geradeaus. Sie überlegte
stumm. Erst an der Ausfahrt Rottweil brach sie das Schweigen. »Der Fundort ist
nicht der Tatort. Das Mädchen ist nicht unbedingt in Stuttgart umgebracht
worden. Vielleicht eher vor der elterlichen Haustür.«
»Theoretisch kann es überall passiert sein. Aber wir haben ja
die Bodenproben. Sandstein, wenn ich mich richtig entsinne. Davon gibt’s hier
jede Menge.«
»Das passt also? Wir werden die Familie auseinandernehmen.
Die Verwandtschaft. Die Freunde. Die Bekannten.«
Fehrle schnaufte. »Wenn du dich da nur nicht verrennst.«
Hinter sich die Schwäbische Alb, vor sich am Horizont der
Mittlere Schwarzwald: Bombastischer Blick auf die Landschaft.
»Warum?«, rief er, stockte und langte sich an den Kopf.
»Warum gerade Petra?«
Der Film hatte sich fest in seinen Kopf eingebrannt.
Fehrle erinnerte sich an jeden Satz, an jede Szene. Sie waren durch einen kleinen
Weiler gefahren.
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