Totenkuss: Thriller
ihre Lider flackerten manchmal und meist dann, wenn sie
einen neuen Einfall hatte. Elisa arbeitete. Sie schrieb an der zweiten Szene
ihres Drehbuchs, mit dem sie sich für ein Fernstudium an einer Filmhochschule
bewerben wollte. ›Das kalte Liebchen‹ war eine komplexe Story mit einem
schwierigen Plot, in dem es um die Liebesgeschichte zwischen einem jungen
Palästinenser und einem blinden Mädchen ging, die sich in Stuttgart auf einem
Bahnsteig kennenlernten. Elisa hatte eine Filmförderung für das Drehbuch
bekommen, die an die Klausel geknüpft war, dass zumindest ein Teil der Handlung
in Baden-Württemberg spielen musste.
Die Beziehung der beiden war kompliziert. Der junge
Palästinenser hieß Achmed und hatte das Handicap, dass er sich nicht für
Politik interessierte. Bei seiner Herkunft war das wie eine physische
Behinderung: Jeder wollte unablässig mit ihm diskutieren. Über den Nahen Osten,
Israel, Afghanistan, die Kurdenfrage. Ihn nervte das. Er wollte einfach nur
sein wie die andern. Schon als Kind war er nach Stuttgart gekommen und er
wünschte sich nur eines: hier zu Hause zu sein. Ein ganz normaler Schwabe. Aber
er schleppte die verkehrte Heimat hinter sich her, er steckte im falschen
Körper. Maja, das Mädchen, in das er sich verliebt hatte, war blind geboren.
Sie nahm ihre Welt über Gerüche wahr, Geräusche und Schwingungen. »Wieso wählst
du«, hatte Margarete gefragt, »ausgerechnet eine Blinde als Heldin? Machst du
es dir da nicht unnötig schwer?«
Schwer war es, unnötig nicht. Elisa konnte sich nur Helden
vorstellen, die mit dem Kopf durch die Wand wollten. Das versuchte sie selbst
jeden Tag. Wie wohltuend musste es sein, tatsächlich mit dem Kopf gegen die
Wand zu rennen und den Aufprall zu spüren, den tauben, belämmernden Schmerz.
»Du, ich glaube, der Ludger kommt.« Margarete war auf die
Terrasse getreten, mit einem Glas und einem Geschirrtuch in der Hand. »Komisch.
Ich habe unten in der Kurve einen gelben VW-Bus gesehen, er kam hoch von Lago
Boracifero, das muss er sein.«
»Pfingsten ist doch erst in der nächsten Woche«, erwiderte
Elisa. Ludger war Lehrer und verbrachte seine Pfingstferien immer in der
Toskana, meistens mit seinen beiden Töchtern. Sein Häuschen lag am
gegenüberliegenden Hang, auf der anderen Seite des Tals, mitten im
Naturschutzgebiet.
»Eben«, meinte Margarete nachdenklich. »Deshalb ist es ja so
komisch.«
»Vielleicht hast du dich geirrt.« Elisa wandte ihrer Mutter
leicht den Kopf zu und lächelte mühsam. »Vielleicht war es gar kein VW, die
Straße ist doch viel zu weit weg, um das genau zu erkennen.«
»Wir werden sehen.« Margarete zuckte die Schultern. Sie
wandte sich ihrer Tochter zu und sah sie liebevoll an. »Möchtest du vielleicht
noch einen Saft? Oder hast du Hunger?«
»Nein, danke.« Elisa schüttelte leicht den Kopf. Sie hatte
ungefähr fünf Sätze gesagt und fühlte sich bereits erschöpft. Sprechen fiel ihr
schwer, und sie war außer für Margarete und Hermann für niemanden zu verstehen.
›Nein, danke‹ klang ungefähr wie ›hei, ha‹, und wenn Elisa mit Leuten sprechen
wollte, die nicht ihre Eltern waren, ging das nur über ihren Laptop.
»Möchtest du in dein Arbeitszimmer?«, fragte Margarete.
»Ja«, sagte Elisa und hob den Kopf. Margarete half ihr in den
Rollstuhl. Sie schaffte es auch allein, aber wenn die Mutter ihr half, ging es
schneller. Jeder Handgriff war geübt, jeder Schwung saß perfekt, und es wirkte
beinahe elegant, wie Elisa sich in ihren elektrischen Rolli gleiten ließ.
Sie arbeitete bis in den frühen Nachmittag. Dazu trug sie
Manschetten, die an ihren Handgelenken befestigt waren. Damit schrieb sie auf
einer ganz normalen Tastatur. Es ging langsam. Elisa erzählte, wie Maja auf der
Bank saß, mit einem in die Ferne gerichteten, hohlen, leeren Blick. Und wie sie
dabei gleichsam in sich hineinsah und das Vibrieren spürte des Güterzugs, der
übers Gleis donnerte.
*
Fehrle hockte bis zum Feierabend im Geschäft und
schob Bleistifte hin und her. Zwei Jahre zuvor hatten sie Petras Leiche
identifiziert, 22 Jahre nach dem Mord. Sie waren zusammen vom Polizeipräsidium
nach Schramberg gefahren. Fehrle konnte sich noch gut daran entsinnen, wie er
neben Anita auf dem Beifahrersitz gesessen hatte und sie auf der B 14 in
den Tunnel rasten. Anita Wolkenstein war als Leiterin des Dezernats
Tötungsdelikte/Todesermittlungen damals noch ausschließlich
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