Totenkuss: Thriller
als unausweichlich und ewig dir zugehörig empfunden hattest.
Die Erkenntnis, dass dir deine Heimat abhanden gekommen war, während du noch
darin wohntest, traf dich wie eine Ohrfeige. Beizeiten warst du unzugehörig.
Ein Sonderling, ein Außenseiter. Das war extrem kränkend. Du musstest etwas
erleben, um nicht vollends wahnsinnig zu werden, und da kam Petra gerade recht.
Da war viel Aggression dabei, die von dir kam und sich
letztlich gegen dich richtete. Alles war voller Widersprüche: Halbgare
Wendungen, hilflose Eskapaden, ein Im-Kreis-Rennen und Sich-Verheddern in der
Schnur. Ein Hauen und Stechen, ein Rennen gegen die Wand. Und dann bist du
wieder in der Höhle rumgesessen, im Bunker, und hast dich von Halbstarken
vermöbeln lassen. Bist in die Rolle vom Jesusle geschlüpft. Danach war der
Schmerz realer.
Dich hat beizeiten interessiert, was Menschen sich selbst und
einander antun konnten. Damals ist auf dem Land ein Haufen passiert. Am laufenden
Band Verkehrsunfälle. Sobald du dich in der Nacht zum Sonntag bei Glatteis zum
Trampen an die Kurve vor dem Dunninger Ortsschild stelltest, konntest du darauf
warten, dass ein besoffener Jugendlicher mit Karacho in den Graben fuhr. Wenn
sich das Auto dann überschlug und auf dem Dach landete, halfst du, die
verletzten oder toten Insassen zu bergen. Einer musste es tun, einer musste da
sein, wenn es knallte. Der Erste-Hilfe-Kurs nützte nicht viel, aber ein
Totalschaden war immer noch besser als ein Motorradunglück, wo man die
zerfetzten Körperteile mit der Plastikgucke einsammeln konnte.
Dich hat nicht der Tod interessiert, obwohl das oft genug
die finale Konsequenz war. Es ging dir mehr um das Unglück und Verderben; um
all die Möglichkeiten sein Leben zu verfehlen, in denen du dich erkannt hast.
Wenn der Sinn des Lebens darin lag, richtig zu sterben, wenn es also darum
ging, zu lernen und hinzunehmen, wenn das Streben nach Erleuchtung im Zentrum
stand, dann befandest du dich in totaler Finsternis, in der größtmöglichen
Entfernung des Geistes überhaupt. Es reizte dich, dich dort hinzustellen, an
den Ort der Verdammnis, in die Dunninger Kurve. Die besoffene Raserei war nicht
die einzige Chance, sich erweitert um die Ecke zu bringen. Neben den Unfällen gab
es die Drogen, den Suizid und den Bankraub. Außerdem die Landwirtschaft, wo man
sich mit einer Fülle von Gerätschaften den Tod holen konnte. Mit der Kreissäge,
dem Häcksler, dem Mähdrescher. Dann die Tierhaltung. Und daneben noch die
ganzen Delikte, die sich in den Familien abspielten: Misshandlung, Kindsmord,
Vergewaltigung, Inzest. Die Mädchen reagierten gewöhnlich mit Magersucht, die
Buben mit einer grenzdebilen Schusswaffengeilheit. Während die Mädchen ihre
Organe ruinierten und sich einsam durch Selbstkasteiung zum Verschwinden
brachten, rotteten sich die Buben zu Horden zusammen, sägten die Schrotflinte
ab, zogen marodierend einher und ballerten alles nieder, was sich ihnen in den
Weg stellte: Äpfel, Hasen, Hühner. Autoreifen und Greise. Die Mütter sprangen
mit den Kindern ins Güllefass und wurden im freien Fall abgeknallt. Die Väter
hatten sich durch den Alkohol schon weitgehend selbst beseitigt, ehe die
Irrenanstalt den Rest besorgte. Übrig blieben ein paar Buben: Streuner,
Rotzlöffel, Quälgeister in durchlöcherten Jeanshosen, deren dreckverkrustete
Gesichter all die Weil ein wenig an die Kriege der Ahnen erinnerten.
Du hast da nicht dazugehört. Und du hast früh überlegt, dass
man eigentlich etwas dagegen machen musste, gegen den ganzen Scheiß. Gegen die
Idioten um einen herum, gegen den Suff und den Kiff, gegen all das, wozu du
sowieso zu jung warst. Die Pubertät setzte dir überhaupt zu. Auch im Hinblick
auf deinen Spargel. Hormone durchsiebten dein Hirn wie eine Handgranate. Du
warst machtlos den Verhältnissen ausgeliefert und du konntest deine Wut immer
weniger steuern. Sie richtete sich auch gegen Petra. Immer stärker gegen Petra,
das Luder. Du hast sie verantwortlich gemacht für die Zurückweisung, sie
verachtet dafür, dass man durch ihre dünnen Pullis die aufgerichteten
Brustwarzen sah. Du hast im Mädchenklo onaniert, nachdem sie dort ihren Tampon
gewechselt hatte. Und du bist ihr weiter gefolgt.
*
»Scheißdreck, liadriger. Da zieht’s dir doch die
Schuh aus mitsamt den Socken.« Der rote Karle saß in Mariabronn am Küchentisch,
in Trainingshose und Rippenunterhemd, und blätterte im
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