Totenkuss: Thriller
Dunningen, wo früher mal ein Riese gewohnt hatte, vor dem die
Kinder davonliefen. Inzwischen wurde dort wie wild gebaut, nachdem man
blindwütig alles abgerissen hatte, was sich einem in den Weg stellte. Vor zwei
Jahren war das Dorf noch desolat gewesen. Die Hauptstraße war verwaist. Die
leerstehenden Bauernhäuser waren nicht mehr zu retten. Sie waren verschalt mit
Eternitplatten, die Fensterläden kaputt und die Vorgärten asphaltiert. Auf der
Miste neben dem Kuhstall wucherten wilde Büsche. Unkraut blühte. Niemand war
unterwegs. Trotzdem herrschte vorsorglich Tempo 30. Anita grüßte eine
Blitzampel.
Nachdem sie den toten Ort hinter sich gelassen hatten,
kurvten sie über die Heuwies hinauf nach Sulgen. Am Straßenrand standen drei
kleine Holzkreuze. Darauf die Namen David, Corinna und Marc. Fehrle drehte den
Kopf. Die Ausläufer des Schwarzwalds flogen an ihnen vorbei. Überall Wiesen und
Weiden. Braun gefleckte Kühe grasten. Der Löwenzahn ging auf. Die Laubbäume
knospten und blühten. Ihr Anblick reizte automatisch die Schleimhäute. Er
nieste.
Halb abgestorbene Tannen säumten die Hochebene. Zwischen
den Feldern standen in gemessenem Abstand Aussiedlerhöfe. Sie hatten einst drei
bis vier Generationen beherbergt. Die Dächer waren groß wie Fußballfelder, die
vielen Fenster dagegen klein wie Schuhschachteln. Mehrere Höfe folgten
aufeinander. Erst kam die Ruine vom Speckseppleshof, dann der Widdum-Bur, wo
eine Behinderteneinrichtung untergebracht war. Anthroposophen betrieben
ökologische Landwirtschaft und beuteten Waldorfschüler aus. Zuletzt kam der
Moosmannen Franz, der mit 85 immer noch rüstig war und allein lebte. In der
Senke gab es noch Landwirtschaft. Dort war der Fehrleshof. Man konnte ihn von
der Straße aus nicht sehen. Trotzdem schaute Fehrle hinüber. Er sah, wie Rauch
aufstieg. Er kam aus dem Schornstein. Am Hang stand das Holzhaus von Hans. Als
Zweitältester hatte er den Hof übernommen.
Wie oft stellte sich das Bild ein. Es waren 13 gewesen, 13
Kühe. Sie waren alle schon lang verkauft, doch Fehrle konnte noch immer die
einzelnen Kuhgesichter unterscheiden: Lisa, Monika, Gertrud, Anna. Sigrid,
Irma, Elsa, Marina, Mathild, Martha, Gisela, Roswitha und Theres. Fehrle roch
noch den stechend stinkenden Ammoniak. Er verscheuchte die Viecher, die
schnaubend verblassten.
»Ich glaube, wir haben etwas Entscheidendes übersehen«,
meinte Anita.
»Ja so«, sagte Fehrle blöd und sah den Vater am Pferch
stehen, die Kuh Erna am Bendel, die der Erich begatten sollte. Erna, die
beizeiten beim Kalben verreckt war. Aber der Erich hatte gar kein Interesse und
die Erna wehrte sich, schnaubte und stampfte wie verrückt.
»Was sinnierst du?« Anita runzelte die Stirn.
»Wir müssen Obacht geben. Sonst ermitteln wir im Kreis
rum, und wieder kommt eine schnurrige Maus dabei raus.«
Anita sah ihn von der Seite an, während sie den Blinker
setzte. »Du warnst also selbst davor, dass wir uns verrennen. Wir haben nichts
in der Hand, nicht das geringste Indiz, wer Petra Clauss getötet hat.«
Fehrle reagierte nicht. Wieder sah er am Pferch den Vater,
vor der Kuh Erna, die er immer noch am Bendel hielt, weil der Erich sie endlich
besamen sollte. Und plötzlich sprang der Erich auf sie drauf und pumpte und
stieß und die Erna hob ihr Maul zu einem langanhaltenden Klagelaut. Als er der
Urszene beigewohnt hatte, war Timo Fehrle ein kleiner Bub gewesen. Nun war er
ein alter Daudel, der immer noch nichts begriff.
*
Die Toten
gehören den Lebenden, denn sie können sich gegen deren Liebe nicht mehr wehren.
Du wünschtest dir den Tod der Geliebten, um sie für immer zu behalten. Das war
nicht unanständig. Das war nur das, was alle gemacht haben. Der Roman des 19.
Jahrhunderts, verfrachtet in die Ära Kohl und angereichert mit dem allerletzten
Tröpfchen Friedensbewegung.
Damals wusste man nicht, was ein Stalker ist. Und dass man
sich damit strafbar macht. Du warst 14, 15, und du konntest deine romantische
Spinnerei nicht verwerflich finden. Eher kläglich hast du dich gefühlt,
armselig, aber doch nicht hoffnungslos. Es hätte ja doch sein können. Es passierte
aber nicht. Sie hat sich nicht umgedreht, dich nicht angeschaut, dir kein
Lächeln geschenkt. Sie hat dich einfach nicht beachtet. Du konntest sie
abpassen, wo du wolltest, am Schultor, an der Bushaltestelle, vor der Apotheke,
wo sie für einen Patienten ihres Vaters ein Medikament holte
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