Totenkuss: Thriller
seine Chefin
gewesen, nicht nebenher die Wochenendbeziehung von Hans. Die Geschichte mit
Fehrles jüngerem Bruder belastete ihr Dienstverhältnis, zumal Hans sieben Jahre
jünger war als Anita und Fehrle diese intime Freundschaft nicht einordnen konnte.
Fehrle hatte schon mit ihr zusammengearbeitet, als er noch
bei der Sitte schaffte und sie war gerade mal Hauptkommissarin. Das musste ewig
her sein. Vor zwei Jahren hatte eine lange gewachsene Vertrauensbasis
bestanden, die mittlerweile zerbrochen war. Inzwischen herrschte auf beiden
Seiten Verunsicherung; Fehrle spürte, dass er damit nicht allein war. Anita
ging es genauso, aber sie konnten sich darüber nicht austauschen. Vielleicht
hatte es in diesem lächerlichen Dienstwagen, in Anitas blutrotem Smart,
angefangen bergab zu gehen. Es war das Ende einer keuschen Dienstbeziehung, auf
die Barbara immer eifersüchtig gewesen war. Fehrles Frau war blond, hübsch,
kräftig und praktisch. Sie zog zwei Kinder groß und pflegte ihren Vater. Sie
hatte Anita stets als magersüchtige egoistische Kuh bezeichnet, weil sie ihre
Tochter zur Tagesmutter und die Mutter ins Heim gab, und das alles bloß um
Karriere zu machen. Fehrle hatte die Kollegin verteidigt: schließlich sei Anita
alleinerziehend, sie habe ja keinen Mann. Insgeheim war er auch deshalb sehr
dafür, dass Anita voll berufstätig blieb, weil sie es war, wegen der er gern
ins Geschäft ging. Gleichzeitig war er sehr zufrieden mit seiner Frau, die in
die Kirche ging und stolz darauf war, Hausfrau und Mutter zu sein und dazuhin
noch Tochter. Anders hätte er es daheim nicht haben wollen, und dann hatte
Anita sich in seinen charmanten kleinen Bruder verliebt, dem die Familie
weggelaufen war und der allein auf seinem Hof hockte. Hans leistete keinerlei
Widerstand. Anita hatte sich ihn unter den Nagel gerissen und alles ruiniert,
was zwischen ihnen gewesen war. Für Fehrle war klar, dass die Initiative von
Anita ausgegangen sein musste. Schon allein wegen des Altersunterschieds:
welcher Biobauer suchte sich aus freien Stücken eine sieben Jahre ältere Frau,
die mit ihrer pubertierenden Tochter 130 Kilometer entfernt in der Stadt
wohnte? Hans war ein Galgenvogel. Nicht einmal schön war Anita, höchstens
interessant.
Fehrle bemerkte zum ersten Mal, jetzt, zwei Jahre später, als
er am Tisch saß und Bleistifte bewegte, dass Anita Ähnlichkeiten hatte mit
Petra. Die schlanke, aufrechte Figur, die mittlere Größe, die hohe Stirn, die
dunkelbraunen Haare, die in einer Innenwelle auf die Schultern fielen: Anita
sah so aus, wie Petra in ein paar Jahren aussehen könnte. Diese Erkenntnis kam
blitzartig und überraschte ihn. Wieso war er dafür blind gewesen? Und hätte es
eine Rolle gespielt? Fehrle fühlte eine Welle von Schwindel aufsteigen. Die
Wand, auf die er stierte, wurde fahl, der Raum eindimensional. Das war der
Anfang eines Migräneanfalls, oder er bekam einen Hirnschlag. Vielleicht ging es
auch vorbei. Erstaunt spürte er, wie es in seinem Kopf hell wurde und sich ein
Film abspulte. Er spielte mit darin. Er saß wieder auf dem leichengrauen Sitz
in dem blutroten Auto, neben Anita, die das Steuer in der Hand hielt. Sie
hörten Musik, irgendetwas Leichtes, nicht mehr ganz Neues, das ihnen das Gefühl
gab, unterwegs zu sein zu etwas Beiläufigem, Freizeitlichem, nicht zu einer
Serie von Befragungen, die sie anstellen mussten, weil nach 22 Jahren eine
Leiche identifiziert war in einem ungeklärten Mordfall. (Sie wussten noch
nicht, dass Petras Mutter im Sterben lag. Und dass niemand mit ihnen reden
würde. Dass ein Mantel des Schweigens über allem lag, was mit Petra Clauss zu
tun hatte.) Anita fuhr schnell und sie rauschten in diesen Tunnel hinein, an
dem eine Frage klebte, die sie gestellt hatte, als noch Licht war und die Sonne
schien und da war diese unbewusste Musik.
»Hast du Petra gut gekannt?«, hatte sie gefragt.
Fehrle hatte gar nicht gemerkt, dass das Radio lief, aber
allmählich verdichteten sich die Störgeräusche, bis es britzelte, und darauf
folgte mehrmals ein heller durchdringender Ton. Anita betätigte die Off-Taste.
Fehrle hatte versucht, sich richtig auszudrücken. Und richtig
hieß vage. Er hatte Petra so ›halb‹ gekannt. »Sie war ja auch vom Sulgen. Aber
sie wohnte am anderen Ende, Schramberg zu. Mein Elternhaus lag fünf, sechs
Kilometer von Schramberg entfernt. Ich ging dort aufs Gymnasium und sie auf die
Realschule.«
Fehrle
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