Totenkuss: Thriller
zählten? Sie waren oftmals grotesk, ekelhaft und unmenschlich.
Und extrem schmerzhaft, peinigend und erniedrigend für die gefolterten,
gedemütigten, geschändeten Opfer.
Wie war die klaffende Wunde an Petras Schläfe entstanden,
die der Täter ihr zugefügt hatte, bevor er sie erwürgte oder erdrosselte? Dass
sie nach dem primären Angriff noch gelebt hatte, darauf deutete die Blutlache
neben der Leiche hin, die nach Einschätzung von Gerichtsmedizinern aber auch
von Einstichen in den Brustkorb herrühren konnte. Sollte Hahnke als
mutmaßlicher Täter infrage kommen, war die Todesfolge womöglich nicht geplant
gewesen. Im Gegensatz zu seinen späteren Opfern hatte er Petra gekannt. Und im
Unterschied zu ihnen war sie weder gehandicapt noch intelligenzmäßig
unterlegen. Niemand wusste, nach welchen Kriterien Olaf Hahnke die drei jungen
Frauen ausgesucht hatte. Gesichert war nur, dass sie körperlich beeinträchtigt
und seelisch krank oder geistig behindert und dadurch extrem wehrlos waren.
Damit verletzte er, ob ihm das wichtig war oder nicht, ein entscheidendes
gesellschaftliches Tabu. Er übertrat die Grenze zum Unfasslichen. Sein Handeln
erscheint uns unerträglich und wider die Natur. Das führt dazu, überlegte
Anita, dass sich keiner in Hahnkes subjektive Innenwelt einfühlen will. Man
setzt sich mit seinen Taten rein objektiv auseinander, was nun die Fahndung
extrem erschwert, weil völlig undefiniert ist, womit man zu rechnen hat.
Seltsamerweise fand keiner etwas dabei, sich in die Psyche
eines linksradikalen Terroristen hineinzuversetzen. Oder in einen skrupellosen
Spitzel. In dem Fall, den Anita eben vom Tisch hatte, war es im Wesentlichen
darum gegangen. Die Ermittler bemühten sich, die Denkart der
Roten-Armee-Fraktion und ihrer staatlich subventionierten Helfershelfer zu
begreifen, weil die Vorgeschichte in die siebziger Jahre zurückreichte, wo die
alte Bundesrepublik von einer Welle politisch motivierter Gewalt erfasst und in
ihren Grundfesten, wie es damals schien, erschüttert worden war. Im Zentrum der
Hintergrundermittlungen stand die Verquickung der RAF mit dem Staatsschutz
sowie diversen Geheimdienstorganisationen. Anita hatte sich durch Akten gewühlt
und in Dokumenten gestöbert, die sehr sorgsam aufbereitet waren, bis das BKA
ihr den Fall – zu Recht, wie sie fand – entzogen hatte. Das
große Ganze reichte in Dimensionen hinein, mit denen sie nichts zu tun haben
wollte.
Auch wenn im Gesamtbild manches derart widersprüchlich blieb,
dass die Faktenlage katastrophal war – vor allem, was die Rolle von
V-Leuten und verdeckten Ermittlern innerhalb der RAF anging –, konnten
doch Details bis in die feinsten Verästelungen hinein verfolgt werden. So
durfte als weitestgehend gesichert gelten, was sich im siebten Stock des
Stammheimer Hochsicherheitstrakts während des Prozesses gegen den Kopf der
Baader-Meinhof-Gruppe Mitte der siebziger Jahre abgespielt
hatte – einschließlich der Todesnacht von Baader, Ensslin und Raspe
vom 17. auf den 18. Oktober 1977. Man konnte ohne spekulative Gier anhand von
Beweismitteln, zum Teil aus den Beständen des BKA, nachvollziehen, wie die
Gefangenen untereinander kommunizierten, welche Manipulationstechniken sie
beherrschten und was Holger Meins und Ulrike Meinhof beizeiten in den Tod
getrieben hatte. Wer sich dafür interessierte, für den ließ sich auf
erschreckende Weise durch teilweise illegale Quellen belegen, wann welche
Häftlinge sich aufgegeben hatten und warum sie zu Opfern der überheblichen
Machtgeilheit ihrer eigenen Genossen wurden.
Anita Wolkenstein, die von ihrer alternativ eingestellten
Mutter antiautoritär erzogen worden war, fühlte sich immer noch erschöpft von
dem, was an Erkenntnissen inzwischen erstaunlich offen zutage lag.
Polizeiapparat und Justiz hatten sich mitunter verhalten wie leutselige Deppen.
Sie hatten vor der RAF gekuscht. Dabei waren die Terroristen nichts als
verwöhnte, verwahrloste Bürgerkinder, die es bis zuletzt schafften, sich auf
Kosten anderer Privilegien zuzuschanzen. Anita hatte selten egozentrischere,
verlogenere, brutalere, menschenverachtendere, sadistischere Sätze gelesen als
die aus den Kassibern, die mithilfe der Anwälte unter den Häftlingen
kursierten. Und sie hatte sich in ihrer dienstlichen Laufbahn noch nie mit
Taten beschäftigt, die mit einer ähnlichen Kaltblütigkeit befohlen und begangen
worden waren, und das mochte
Weitere Kostenlose Bücher