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Totenkuss: Thriller

Totenkuss: Thriller

Titel: Totenkuss: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta-Maria Heim
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ungeklärt waren, hatte man alle Zeit der Welt, selbst
die abseitigsten Fakten in Seelenruhe zusammenzutragen. Selten brachte das den
Durchbruch. Meistens waren DNA-Abgleiche schneller. Oder das Automatisierte
Fingerabdruckidentifizierungssystem, auch AFIS, ein wahres Wundermittel, mit
dem das Landeskriminalamt Furore machte.
    Die Dinge lagen scheinbar klar zutage: Olaf Hahnke kam zwar
aus Schömberg bei Balingen, aber er war als Kind viel auf Besuch in Schramberg
gewesen. Die Kernen wohnten am Sonnenberg – von da ging es durch den
Wald steil hinauf auf den Sulgen. Dort, im Niemandsland, war er daheim. Ihm
gehörte kilometerweise Wildnis, er streunte tagelang herum; ein erprobtes
Mittel gegen Langeweile. Olaf hatte keine Wahl: Weil seine Mutter unter einer
chronischen Krankheit litt, verbrachte er bei seinen Großeltern häufig die
Wochenenden oder einen Teil der Ferien. Sein Großvater, Josef Kern, Jahrgang
1919, war in der Talstadt Leiter der örtlichen Polizeidienststelle. 1984, irgendwann
nach dem Tod seiner Frau, ging er in den Ruhestand.
    Fehrle staunte über eine offenbar bruchlose Arbeitsbiografie:
Schon als junger Parteigenosse wurde der Schupo Kern NSDAP-Ortsgruppenleiter.
1942 soll er zahlreichen Zeugenaussagen zufolge für die Deportation etlicher
ortsansässiger Zigeuner verantwortlich gewesen sein. Nach dem Krieg hat er bei
den Wiedergutmachungsprozessen ausgesagt, aber alles abgestritten, was ihn
hätte belasten können. Anklagen gegen ihn wurden nach kurzer Zeit
fallengelassen. Kern war zeitlebens ein unbeherrschter Charakter, der seinem
cholerischen Temperament auch bei der Erfüllung seiner Berufspflichten freien
Lauf ließ. Er zeigte nie Reue und starb 1994, ohne die Rechtmäßigkeit seines
Tuns im Dienste der Nazis jemals in Frage gestellt zu haben.
    Olafs Großmutter Reinhilde, 1918-1984, war eine gebürtige
Schuler. Über sie war nichts bekannt, außer dass sie eine stramme Kirchgängerin
gewesen war. Und dass sie Josef fünf Kinder geschenkt hatte. Der älteste
Kernen-Sohn Adolf war mit einer geborenen Hahnke verheiratet; Sieglinde war die
Schwester von Olafs Vater Götz. Zusammen mit weiteren Familienangehörigen
hatten sie gegen Kriegsende ihre Heimat im Osten verlassen müssen. Als
Flüchtlingskinder hatten sie es in Schwaben nicht leicht gehabt, doch Götz
Hahnke hatte Medizin studiert und sich in den sechziger Jahren in Schömberg mit
einer eigenen Praxis als Hausarzt niedergelassen. Er hatte Susanne Friedl
geheiratet, eine weiche Frau, die Krankenschwester war und keine Kinder
bekommen konnte. Dann kam aber doch ein Baby. Ein Junge: Olaf.
    Olaf Hahnke blieb ein Einzelkind. Er wuchs behütet auf,
soweit Fehrle das aus der Aktenlage ersehen konnte. Julius Stern, der
Kriminalpsychiater, hatte in seinem Gerichtsgutachten auch nichts anderes erwähnen
können als die gemeinen Plattheiten: unauffälliges Elternhaus, dem Vernehmen
nach stabile Kontakte zur Außenwelt, überdurchschnittliche Leistungen, soziale
Anpassung. Das Einzige, was störte, war die braune Vergangenheit von Großvater
Josef, aber sowas kam ja bekanntlich in den besten Familien vor. Hatte Josef
Kern gegen Kriegsende mit den sieben Konzentrationslagern auf der Schwäbischen
Alb zu tun gehabt? In Schömberg, Schörzingen, Frommern, Erzingen, Bisingen,
Dautmergen und Dormettingen starben 1944/45 über 3.500 Häftlinge. Zur
Rohölgewinnung wurde Ölschiefer abgebaut – dazu wurden viele extrem
geschwächte Gefangene aus dem Osten eingesetzt, die unter unmenschlichen
Bedingungen schufteten und zu Tode kamen. Warum hatten sich die Eltern Hahnke
gerade in Schömberg niedergelassen? Weil Verwandte dort lebten? Hatten sie
Verwandte in einem KZ?
    Das waren Dinge, die man theoretisch noch erfragen konnte.
Aber Fehrle wusste, wie schwierig das war. Anfragen an die Staatsarchive
Ludwigsburg und Sigmaringen waren im Sand verlaufen. Tante Sieglinde war
bereits verstorben, aber Hahnkes Eltern lebten noch und wohnten immer noch in
Schömberg. Wie das gehen konnte, war Fehrle ein Rätsel. Schmissen die Nachbarn
ihnen nicht die Scheiben ein? Wurden sie nicht beschimpft und gejagt? Wie
wurden sie in ihrer gewohnten Umgebung damit fertig, dass ihr eigener Sohn in
den Augen der Leute (und vielleicht auch in ihren eigenen Augen) ein Monster
war? Fehrle wäre gern hingefahren und hätte sie gefragt, aber das hätte nur
unnötig disziplinarische Maßnahmen nach sich gezogen. Die Hahnkes

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