Totenkuss: Thriller
würdigere Grabstätte zu bereiten. Man schritt zur
Wiederausgrabung des Leichnams, ein Vorgang, dem man nicht ohne Bedenken
entgegenschaute. Als man die Grabplatte weggetragen hatte, entströmte dem Sarg
zur unfaßlichen Überraschung der Anwesenden ein überaus angenehmer Duft! Er war
von einer berückenden Lieblichkeit …
Walter Nigg,
Vom Geheimnis der Mönche
Donnerstag, 8. Mai
# Grabwunder
In ihren Träumen war Elisa gesund; sie konnte
laufen und wunderschön lachen in der Nacht. Dabei wusste sie nicht mehr, wie
sich das anfühlte. Sie blickte auf sich selbst wie auf eine Leinwand. Ein süßer
Schmerz, die Motivation für ein Drehbuch. Im Grunde hoffnungslos. Denn das
Problem war, dass der Mensch sich nicht erinnern konnte. Selbst wenn man das
wollte und selber der Meinung war, man wüsste noch genau, wie dieses oder jenes
gewesen sei. Das Gehirn führte ein schwer beeinflussbares Eigenleben,
demzufolge die Leute sich an Dinge entsannen, die nie stattgefunden hatten,
während sie das Augenfällige vergaßen und später hartnäckig verleugneten. Warum
manchmal ein Leben lang Fakten verdrängt wurden, die man auch hätte im
Gedächtnis bewahren und mitteilen können, war Elisa ein Rätsel. Und
gleichzeitig wurden komplett unnötig falsche Tatsachen erfunden! Sie dachte oft
darüber nach, weshalb unablässig gelogen wurde, vorsätzlich oder eben mit jenem
stumpfen Automatismus, der sich nicht abschalten ließ. Wieso konnte man dem
Gedächtnis niemals vertrauen? Vielleicht gab es Bücher darüber, die sie nicht kannte.
Psychologische Studien. Neurologische, philosophische. Von irgendwem musste es
doch erforscht sein, das unergründliche Ergebnis chemischer Prozesse, aus denen
sich Persönlichkeit und Charakter zusammensetzten.
Es war nun bald 20 Jahre her. Als es passierte, war Elisa
erst zweieinhalb gewesen. Sie konnte sich schon von daher an nichts Genaues
erinnern. Dennoch gab es Bilder, an die sie sich entsann, weil sie immer wieder
daran zurückgedacht hatte. Elisa sah sie unscharf und ohne Farben, abgesehen von
einem Meer greller und kalter Blautöne. Es war die Erinnerung an die Erinnerung
der Erinnerung. Und es gab Gerüche. Die Rosen. Das Benzin. Das frische Gras.
Der Filterkaffee. Die Rasiercreme. Das Chlor. Obwohl das Wasser in dem kleinen
Planschbecken nicht gechlort gewesen war. Es war kaltes Trinkwasser gewesen,
das mit dem Gartenschlauch eingelassen und zum Erwärmen in die Sonne gestellt
worden war. Das gleiche Trinkwasser, mit dem Margarete drinnen in der Küche
Kaffee aufbrühte.
Das Planschbecken war kreisrund gewesen und aufblasbar. Man
konnte den Blasebalg nehmen wie bei der Luftmatratze und damit erst den Boden,
dann die Wülste an den Seiten aufblasen. Zum Aufpumpen gab es mehrere Kammern,
und am Ende quollen die Wülste übereinander wie das Fleisch einer prallen,
dicken Frau. Die Plastikfolie fühlte sich straff und seidig an, wenn die Sonne
darauf schien. Das Planschbecken war unten hellblau und an den Seiten
durchsichtig, mit einem Muster aus unterschiedlich blauen und türkisfarbenen
Blasen. Das lauwarme Wasser darin glitzerte in der Sonne. Feine Wellen
kräuselten die Oberfläche, als Elisa ihre Patschhände in die Folie krallte und
mit dem linken Bein zuerst über den Rand stieg. Sie hatte die Windel
abgestreift, ließ sich nackt hineingleiten und ging in die Hocke. Das schöne
frische Wasser reichte ihr bis über den Bauchnabel. Sie malte mit den Fäusten
Kringel hinein und blinzelte in den Himmel, der so klitscheblau war wie der
Boden unter ihr.
Der Film spulte sich hinter Elisas geschlossenen Augen stets
aufs Neue ab. Ihre Lider zuckten, und sie sah alles ganz genau vor sich. Es
geschah an einem heißen Samstagnachmittag im Juli. Oma Irmtraud war
heruntergekommen. Sie hatte mit Elisa im Sandkasten einen Kuchen gebacken, dann
war sie mit Margarete in die Küche gegangen. Elisa war zunächst
hinterhergelaufen, hatte sich dann aber auf einmal umgedreht. Sie rannte zurück
zum Garten, ließ die Windel fallen und stieg ins Planschbecken. Jauchzend
plumpste sie auf den luftgepolsterten Boden. Während sie bis zur Brust ins
Wasser sank, musterte sie aufmerksam ihre Umgebung. Links vom Becken befand
sich ein weißer Rosenstrauch. Rechts stand ein blassblauer Gartentisch mit
dunkelblauen Tellern und himmelblauen Tassen darauf. Hermann mähte die Wiese.
Er benutzte dazu einen benzinbetriebenen Handrasenmäher, der
Weitere Kostenlose Bücher