Totenkuss: Thriller
etwas heißen. Die Rücksichtslosigkeit der RAF war
kaum auszuhalten. Und doch wollte kein Mensch etwas davon wissen, wie diese
Leute miteinander und mit der Welt umgegangen waren. Stattdessen wurden die
Trivialmythen einer verirrten Jugendrebellion konsumierbar gemacht: als
Italowestern. Keine Frage, die RAF hatte, was den Zuspruch des Publikums
anging, doch noch gesiegt. Obwohl Originaltexte und -töne 30, 40 Jahre danach
belegten, wie entgleist ihr Umgangston war, wie verludert ihr politischer
Anspruch und wie verirrt ihr Hass, waren sie als Mehrfach- und Serienmörder
doch noch zu Leinwandstars und Bestsellerhelden geworden. Niemand, mit Ausnahme
der Opfer und ihrer Angehörigen, nahm ihnen wirklich was übel. Anita gähnte. Und
Baader hat als Baader doch noch gesiegt. Hätte Andreas das noch erleben können.
Heil Andi. Bis heute glaubte das neoliberale Bürgertum begeistert an die
Isolationsfolter, die Faschisierung des Staats, die Nützlichkeit von
Hungerstreiks und die Uneigennützigkeit der, freilich fehlgeleiteten,
Stadtguerilla. Noch nie gab es mehr Sympathisanten als heute, die Kinos und
Buchläden stürmten, um ein paar Gangster und ihre Bräute beim Ballern zu
erleben.
Wieso, dachte Anita, sieht man mit jubelnder
Bereitwilligkeit einem Terroristen dabei zu, wie er ein unschuldiges Opfer
foltert und hinrichtet, solange er aus scheinbar moralischen, also für uns
nachvollziehbaren Motiven handelt? Weshalb diskutieren wir fieberhaft über die
Gründe seines Tuns, während einem ganz klamm und mulmig wird beim Gedanken an
einen geisteskranken Serienverbrecher? Was ist der Unterschied? Ein
Serienmörder übt, gleich welchem Typus er angehört, auf gewalttätige und
menschenverachtende Weise Macht aus. Die Terroristen üben auch solche Macht aus.
Weshalb ist der geistige Hintergrund eines, sagen wir mal, Satanisten
verwirrter als der eines führenden RAF-Mitglieds?
Was diese jungen Leute an kriminellem Unfug verbreiteten
und welch extrem schädliche Folgen das hatte, war schlichtweg zu wenig bekannt.
Was ihre pseudolinke Haltung wohl mit jener humanistischen Ideologie zu tun
hatte, die ein paar großartige Theoretikerinnen und Theoretiker Sozialismus
nannten? Zur Hölle mit ihnen. Anita fragte sich, ob sie mit zunehmendem Alter
konservativ wurde. Ob sie immer noch gegen ihre Mutter rebellierte. Ob sie
einfach ausgebrannt war. Ob sie verrückt wurde. Oder ob sie im Begriff stand,
Hahnkes Verbrechen und seine Gefährlichkeit zu bagatellisieren. Aber sie war
einfach nur müde und verärgert.
Während Anita Mails mechanisch löschte, hing sie der Frage
nach, welchen Sinn es hatte, dass man das kriminelle Tun, das moralisch
nachvollziehbar erschien, nach den eigenen Bedürfnissen rechtfertigte und die
Täter idealisierte. Warum konnte man die Argumentationskette der Terroristen
scheinbar nachbeten? Hatten sie sich jemals ehrlich geäußert? War auch nur ein
einziges gereiftes RAF-Mitglied zu einem persönlichen Geständnis fähig gewesen,
das mehr war als eine anonyme, papierene, pseudopolitische Erklärung? Nein?
Waren die postpubertären Chefideologen der RAF also besser zu begreifen als
Olaf Hahnke, bloß weil sie pauschal Menschlichkeit ins Feld führten, bevor sie
unmenschlich handelten? Womöglich tat Hahnke das ja auch, er plädierte für den
Humanismus, wie er ihn verstand, und keiner hörte ihm zu.
Natürlich konnte man nicht Äpfel mit Birnen vergleichen.
Aber war ein Arbeitgeberpräsident als Folteropfer weniger bedauernswert als ein
junges Mädchen mit einer Mehrfachbehinderung? Wie konnte es dazu kommen, dass
ein Andreas Baader, dessen unvorteilhafte Wesenszüge hinlänglich bekannt waren,
postum heroisiert wurde, während ein Olaf Hahnke, von einer diffusen
Sensationslüsternheit abgesehen, einfach keinerlei spezifisches Interesse
verdient hatte und nicht die geringste analytische Aufmerksamkeit? Das als
zutiefst amoralisch empfundene Verbrechen löste im besten Fall voyeuristische
Schauder aus. Tief in ihrem Innern vernahm Anita den Klageschrei der Mutter.
Also Anita, bitte, dass du aber auch gar nichts begreifst! Sofort übermannten
sie Schuldgefühle. Sie dachte an einen Absatz aus dem RAF-Essay ›Stumme Gewalt‹
von Carolin Emcke, den sie kopiert und an die Pinnwand hinter ihrem
Schreibtisch geheftet hatte, um sich diese Fragen Tag für Tag neu zu stellen:
Wie schaffen sie das?
Diejenigen unter ihnen, die noch unentdeckt in
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