Totenkuss: Thriller
zuverlässig
brummte.
»Papa arbeitet«, rief Elisa. Sie schaffte Zweiwortsätze,
manchmal Dreiwortsätze, und redete gern mit sich selber. Sie hatte nie von sich
in der dritten Person gesprochen. Monatelang hatte sie gelernt, die anderen
richtig anzusprechen und zwischen bekannten und fremden Gesichtern zu
unterscheiden: Mama Rete, Papa Erma, Oma Immi. Mann da, Frau da, Hund. Kinder.
Als sie sich selbst entdeckte, sagte sie Ich.
Margarete hatte ihr eingeschärft, niemals allein ins Wasser
zu steigen. Und nie, nie ohne Schwimmflügel. Elisa hatte die Schwimmflügel, die
ein paar Schritte entfernt im Gras lagen, noch anziehen wollen. Sie wusste,
dass es gefährlich war, ohne Schwimmflügel ins tiefe Wasser zu springen, wenn
man nicht schwimmen konnte. Dieses Wasser war aber nicht tief. Elisa ging nicht
unter, als sie sich hinsetzte und mit den Beinen strampelte. Glucksend blickte
sie um sich. Sie sah Hermann zu, der hinter dem brummenden, stinkenden
Motoresel herlief, der stotterte und stockte, wenn er statt Gras einen Stock
oder eine Wurzel zu fressen bekam. Elisa lachte. Sie stellte sich den
Rasenmäher als etwas Lebendiges vor, der wie alle Welt beseelt war; selbst
Gegenstände, die wesentlich dümmer und unbeweglicher waren als ein Motoresel,
konnten tanzen und sprechen. Die vier Tassen auf dem Tisch zum Beispiel. Das
waren alte, traurige Tanten, die in ihren blauen Mänteln zum Himmel hoch
schwebten. Elisa sprang auf. Sie wollte raus aus dem Wasser. Sie wollte mit.
»Dieses böse Mädchen«, schimpfte die erste. »Böse, böse,
böse.«
»Ja, sehr, sehr dumm«, sagte die zweite.
»Hätte sie bloß, hätte sie bloß«, raunte die dritte
verdrossen.
Die vierte Tasse aber schüttelte sanft den Kopf. »Wo sie
jetzt ist, geht es ihr gut.«
Himmelblaue Tanten, die sich mit vergrämten Gesichtern über
sie beugten und flüsterten. Sie waren zu Krankenschwestern geworden. Das war
später, als es vorüber war, als Elisa in ihrer Lakengruft lag und nicht mehr
den Arm heben konnte, um Margarete, die mit ernstem Gesicht hinter der Scheibe
stand, wenigstens zu winken. Man redete in ihrer Gegenwart über das, was
möglicherweise geschehen war, weil niemand davon ausging, dass sie etwas davon
mitbekam, geschweige denn, dass sie alles verstand. Die Polizei war
eingeschaltet worden. Sie suchte nach einem Mann, der in den Garten gekommen
war und ihr den Kopf unter Wasser gehalten hatte, bis sie das Bewusstsein
verlor. Margarete fragte Hermann, warum er nichts bemerkt hatte, und Hermann
fragte Margarete, warum sie mit Oma Irmtraud einfach ins Haus gegangen war.
Irmtraud beschuldigte beide und suchte die meiste Schuld bei sich selbst.
Das war der Punkt, an dem Elisa 20 Jahre später nicht
weiterdenken mochte. Sie verzichtete darauf zu fragen, weil es keine Antworten
gab. Niemand wusste, was eigentlich genau passiert war. Sie konnte sich selbst
an nichts erinnern, außer dass sie mit den vier hellblauen Tanten spielen
wollte, die ihre Henkelarme hoben und ihr vom Tisch aus zuwinkten. Dann riss
der Film. Wahrscheinlich hatte sie sich schon als kleines Kind hinterher an
nichts mehr entsinnen können. Sie hätte gern die Wahrheit gewusst. Man
vermutete, dass die Polizei damals korrekt ermittelt hatte. Und dass es gar
keine Fremdeinwirkung gab. Dass sie vielmehr beim Aufstehen ausgeglitten war und
sich beim Fallen möglicherweise das Köpfchen gestoßen hatte. Jedenfalls geriet
das Gesicht unter Wasser, das sie, plötzlich in Panik, heftig einatmete. Die
Flüssigkeit in der Lunge konnte nicht abgehustet werden, Elisa kam nicht mehr
hoch, röchelte, hatte keinerlei Kraft, sich aus dem Planschbecken zu befreien.
Wie stark sie gestrampelt hatte und ob Hermann es hätte hören können, blieb
ungeklärt. Die Ermittlungen gegen die Eltern und die Großmutter wurden nach
einigen Wochen eingestellt. Gegen sie war wegen Verletzung der Aufsichtspflicht
ermittelt worden und wegen des Verdachts auf fahrlässige Tötung.
Der Doktor hatte nach Rasiercreme gerochen und Mama nach
Kaffee. Elisa konnte sich an die Rasiercreme und den Kaffee erinnern. Dabei war
sie doch schon tot gewesen, als Mama sie aus dem Wasser fischte, und es war
fast 20 Jahre her. Sie war von einem Nachbarn, der Arzt war, wiederbelebt
worden. Dr. Sachs hatte gerade seine Rosen eingesprüht, als er hörte, wie
Margarete schrie und der Rasenmäher absoff. Er war sofort zur Stelle und
rettete Elisa das Leben. Sie wurde mit
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