Totenkuss: Thriller
Freiheit
leben?
Diejenigen unter ihnen, die im Gefängnis sitzen, verurteilt,
womöglich für eine andere Tat, nicht den Mord an meinem Freund?
Wie halten sie es aus, dieses Schweigen?
Wie können sie weiterleben?
Als wer?
*
›Am 31. Mai bestieg Pommerenke kurz vor
Mitternacht in Heidelberg den Urlaubersonderzug D 969 nach Finale Ligure
an der Italienischen Riviera. An Bord des Zuges ermordete er die 21-jährige
Dagmar Klimke durch einen Messerstich in die Brust, warf ihre Leiche auf der
Rheintalbahn Richtung Basel kurz hinter Freiburg im Breisgau nahe dem
Haltepunkt Ebringen aus dem fahrenden Zug und betätigte anschließend die
Notbremse, sodass der Zug etwa zwei Kilometer weiter südlich bei Schallstadt
zum Stillstand kam. Pommerenke stieg aus, ging zur Leiche seines Opfers zurück
und schleifte sie zu einem nahegelegenen Waldweg, wo er sich an der Toten
verging.‹
Rosa Fix saß in der Stadtbücherei Schramberg am
Rechner und googelte. Weil sie nicht wusste, wie man kopierte und ausdruckte
und die junge Bibliothekarin auch nicht fragen mochte, schrieb sie den Text mit
Bleistift in ihre Chinakladde. Noch immer war ihre Schrift gestochen scharf,
und sie hörte Tiberius, der sagte, dieses Schriftbild zeuge von einem reifen Charakter.
Doch während sie schrieb, spürte sie mit einem Mal Furcht aufsteigen, und die
kalte Dumpfheit der Erinnerung erfasste ihren ganzen Körper. Das
posttraumatische Verbitterungssyndrom. Sie schauderte, an ihren Armen bildete
sich Hennenhaut. Ihr Herz schlug unregelmäßig, ihr Atem ging flach. Ihre Beine
wurden bleischwer und sie spürte im Kopf das Alter als eine galoppierende,
lähmende Verunsicherung.
1959, als Mittdreißigerin, hatte Rosa die Festnahme des
Serienmörders Heinrich Pommerenke nicht nur in der Zeitung verfolgt, sondern
war unmittelbar an der Aufklärung der Taten beteiligt gewesen. Zahlreiche
Diebstähle, Einbrüche, Raubüberfälle und Vergewaltigungen gingen auf sein
Konto. Bei einem Teil der über fünf Dutzend Straftaten war er noch nicht volljährig
gewesen. Darunter vier Morde, sieben Mordversuche. In der Rechtsmedizinischen
waren hintereinander zwei weibliche Leichen eingetroffen, wenn Rosa es noch
recht wusste, die anderen beiden gingen nach Karlsruhe. Pommerenke verbrachte
die Zeit von Februar bis Juni 1959 im Blutrausch. Das Motiv seiner Mordserie
bestand einem späteren Geständnis zufolge darin, dass er in den Frauen die
Ursache allen Übels gesehen habe. Daher habe er es als seine Mission erkannt,
sie zu bestrafen.
Bei seinen Taten ging Pommerenke bestialisch und
unmenschlich grausam vor – dabei war er nicht im Krieg gewesen. Als
der Hilfsarbeiter im Juni 1959 in Hornberg festgenommen wurde, war er noch
keine 22. Pommerenke, der 1953 aus Mecklenburg übergesiedelt war, sah aus wie
ein feinsinniger junger Dichter: hohe Stirn, melancholische Augen,
nachdenkliche Mundpartie. Ein verletzlicher Ästhet mit der Einfühlungsgabe
eines tollwütigen Fuchses. Den ganzen Schwarzwald und den Bodensee hatte er in
Angst und Terror versetzt. Rosa dachte mit Schrecken daran zurück, wie man sich
vor ihm gefürchtet hatte. Als er am 19. Juni 1959 in Hornberg gefasst worden
war, hatte Tiberius ihre Hand genommen und fest gedrückt. Der Alptraum war
vorbei. Sie würden keine neuen Mädchenleichen auf den Tisch bekommen. Jedenfalls
keine, die auf Pommerenkes Konto gingen. Es langte auch. Denn was Rosa da
gesehen und protokolliert hatte, war mehr, als ein Mensch verarbeiten konnte.
Es hatte ihr regelrecht einen Schock fürs Leben verpasst. Der Spuk ging weiter,
die Bilder spulten sich ab in ihrem Innern. Seit bald 50 Jahren waren es immer
die gleichen Geschichten, immer die gleichen Abläufe, die vor ihrem geistigen
Auge vorüberzogen, stets die gleichen Sätze, die Tiberius diktierte, mit stets
den gleichen fahrigen Bewegungen seiner linken Hand, mit der er durch die Luft
wischte.
»Wir schließen jetzt«, sagte die Bibliothekarin sanft.
»Sofort«, erwiderte Rosa, die ungerührt weiterklickte. In
Timos staubigem Jugendschreibtisch war sie auf eine Liste gestoßen, die oben in
der Schublade klemmte. In ungelenken Tintenbuchstaben stand dort: »Lisa,
Monika, Gertrud, Anna. Sigrid, Irma, Elsa, Marina. Mathild, Martha, Gisela,
Roswitha und Theres. (Erna.)« Ein seltsames Sammelsurium von Mädchennamen, die
nicht zueinander passten. Rosa konnte sich zwar keinen Reim darauf machen, doch
sie
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