Totenkuss: Thriller
begeisterter Vater. Weil er nie etwas zugeben konnte, das nicht ins Bild
passte, hatte er sich jahrelang überfordert. Umso erstaunlicher fand Barbara,
dass er nach der Trennung, unter der er hätte leiden sollen, aufblühte.
Offenbar war die Aufkündigung des Zusammenlebens für ihn ein Befreiungsschlag.
Jedenfalls machte er gesundheitlich neuerdings einen besseren Eindruck. Er war
ausgeschlafen. Er hielt sich aufrecht. Er trieb wieder mehr Sport. Er fuhr
Rennrad und kriegte genug Luft. Seit Tagen klagte er nicht mehr über sein
Pollenasthma. Barbara gestand sich ein, dass sie deshalb gekränkt war. Sie
hatte erwartet, dass ihm der Auszug aus dem gemeinsam gebauten Haus, den er
selber gewollt hatte, den Rest gab. Dass er reumütig zurückkehrte. Das
Gegenteil war der Fall. Er plante einen Urlaub allein mit den Kindern, den sie
nicht begriff. Früher waren alle zusammen auf einen Campingplatz an den
Gardasee gefahren oder an den Lago Maggiore. Alle vier. Und als Nathan und
Jorinde noch nicht auf der Welt waren, hatten sie als Paar dort Ferien gemacht.
Jetzt wollte er mit den Kindern ganz allein dorthin. Packte ihn da nicht die
Schwermut? Fehlte sie ihm denn gar nicht?
Punkt halb elf setzte sich Barbara im Elchenbachtal ins Auto
und fuhr los Richtung Rems. Bis zum Krankenhaus waren es sieben Kilometer. Sie
musste Manfred waschen, rasieren und ihn mit Tee und Suppe füttern, weil er
sonst nichts mehr bei sich behielt. Sie wollte zügig damit fertig werden, denn
danach kamen geschwind die Kinder an die Reihe. Wenn sie den Zeitplan einhalten
wollte, brauchte sie starke Nerven. Richtung Ortsausgang war eine Ampel, die
absichtlich den Autofluss staute, um überhöhte Geschwindigkeiten zu vermeiden.
Nach einer Zwangspause ging es im Schritttempo weiter. Die Erwartungen in den
Straßenbau waren außerordentlich hoch. Das Verkehrskonzept im Remstal bestand
neben einer zweigleisigen Bahnstrecke aus einer Fülle von Kreiseln, Brücken,
Über- und Unterführungen, Fußgängerwegen, Radwegen, Nebenstraßen,
Landwirtschaftsstraßen, Umgehungsstraßen und Zubringern, die sowohl die
B 29 entlasten sollten, als auch die Kette der aufeinanderfolgenden Ortschaften.
Es gab für jedes Gefährt vom Lastwagen über den Mähdrescher bis hin zum Buggy
die vorschriftsmäßige Route. Der Durchgangsverkehr wurde aus den verwaisten
Hauptstraßen in die letzten verbliebenen Felder geleitet, was zur Folge hatte,
dass die verspätet entlasteten Dorfkerne vollends ausstarben, während die Zahl
der Raubvögel sprunghaft zunahm. Wildtiere, Igel und Katzen hatten kaum noch
eine Chance, einem verfrühten Verkehrstod zu entgehen, die Landschaft war in
Scheiben geschnitten, die überalterten Apfelwiesen verlotterten und der letzte
Acker wurde demnächst asphaltiert. Dieser Wildwuchs an Mobilitätsmöglichkeiten
brachte perverserweise immer noch mehr Autos ins Spiel, weil dem
Verkehrsaufkommen keine Grenze gesetzt war, was allerdings wiederum dazu
beitrug, das Schwabenland zu retten. Wo Straßen gebaut wurden, frohlockte die
bedrohte Automobilindustrie. Mittendurch rauschte die leere S-Bahn.
Genervt fuhr Barbara mit dem schwarzen Audi um den Kreisel
und die Straße hoch zum Krankenhaus. Als sie in den Rückspiegel sah, bemerkte
sie, dass ihr ein türkisfarbener Opel folgte. Er war schon eine ganze Weile
hinter ihr, aber das hatte wohl nichts zu bedeuten.
*
Die
Erinnerung, die größte Hure aller Zeiten, lässt mich selten im Stich. Mein
Gedächtnis reicht in Zeiten zurück, als ich noch sehr klein war. Ich kann mich
an meine Urgroßmutter Josefine erinnern, die Ahnin. Josfi war die Mutter des
Opas, die allein im Staighäusle, Schramberg zu, wohnte, in einem alten,
heruntergewirtschafteten Hof am Waldrand; dort, wo der Bannwald in den Urwald
überging und gewaltige Sümpfe trockengelegt wurden. Josfi war damals schon an
die 90 und konnte sich immer noch selber versorgen. Die Oma hielt sich heraus,
weil sie mit ihrer Schwiegermutter nichts am Hut hatte, aber der Opa ging
regelmäßig zu ihr; mit dem Motorrad fuhr er die Alte Steige hoch und ich saß im
Seitenwagen. Manchmal, wenn es der Ahnin nicht so gut ging, blieben wir über
Nacht, und ich schlief neben dem Opa auf der Strohmatratze in der oberen
Kammer, in der er mit seinen vier Brüdern gewohnt hatte, bis er in den Krieg
musste.
Annika,
Qualberta, Lupina, Klara. Kunigunde, Rosalie, Cäcilie. Lore, Lotte,
Gerda, Tusnelda.
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