Totenkuss: Thriller
Kriemhild, Susanne, Wilhelma. Gloria. Paulette, Babette,
Penelope, Regine und Theres. Fanny. Roswitha. Petra. Es war im Hochsommer 1972,
als der Fuchs die Hennen holte, ich war knapp zweieinhalb. Der Tag war brütend
heiß. Über 20 wertvolle Zuchthühner, die der Urgroßvater hinterlassen hatte,
pickten im Schatten. Der Fuchs kam, jagte sie, biss ihnen die Kehle durch und
ließ sie liegen. Blut suppte. Grotesk verdrehte Leiber glänzten in der Sonne.
Krallen krümmten sich ins Leere. Überall gespreizte Schnäbel, steife Federn und
ledrige Kämme. Das geronnene Blut stank. Die Hühner stierten mit milchigen Augen
ins Nichts. In der Stille lag noch der Nachhall ihres Gegackers.
Stern war von der Geschichte begeistert. Er sah da so ein
Schlüsselerlebnis: Ich mit dem Opa beim Mittagsschlaf, auf der verseichten
Matratze oben in der Kammer, der Alte manipuliert natürlich, dann stoßen wir
die Läden auf und erblicken um die Miste herum das Massaker. Welch eine
Sternstunde für einen Kriminalpsychiater, dass ihm der Angeklagte seinen
Schuldminderungsantrag praktisch ins Poesiealbum schreibt. Ich hab Tränen
gelacht. Ich habe nie um Gnade gebeten.
Man müsste die Wahrheit beim Schopf packen, aber dafür
interessiert sich kein Mensch. Tatsächlich war es wohl so, dass nicht viel
passiert ist. Meine Kindheit verlief stumm und nahezu geräuschlos. Ich war viel
allein als Kind, denn ich hatte keine Geschwister. Weil ich ungeplant zur Welt
gekommen war und zu Hause niemand Zeit für mich hatte, steckte man mich
beizeiten zu den Großeltern. Oma bügelte hinter zugezogenen Läden. Sie roch
nach Lavendel und Kartoffelstärke. Opa ging morgens ins Geschäft und kam abends
wieder, obwohl Oma immer wollte, dass er daheim zu Mittag aß. Er war der Leiter
der Schramberger Polizeidienststelle. Auch wenn er meistens abwesend war,
erteilte er andauernd Befehle. Er dirigierte meine Oma mit strenger Hand. Ich
hatte Respekt vor ihm und versuchte, ihn auf mich aufmerksam zu machen, weil es
eine Auszeichnung gewesen wäre, von ihm beachtet zu werden. Doch er sah mich
selbst dann nicht, wenn er mir rau übers Haar strich. Er rief mich niemals beim
Namen, ich war einfach bloß der Bub.
Obendrin im Haus wohnte die Familie von Onkel Adolf. Mein
Cousin Fritz, der ein paar Jahre älter war als ich, ließ mich links liegen. Er
hatte schon eine Carrera-Bahn, als ich noch mit Holzklötzchen spielte, und
einen Haufen Legos, mit denen er Feuerwehrautos baute. Er behauptete, ich würde
immer alles kaputtmachen, und ließ mich nicht mitspielen. Es war somit ein
wenig fad bei den Großeltern, als Josfi starb, die nicht mehr ganz richtig im
Kopf gewesen war, und Opa und ich nicht mehr mit dem Gespann ins Staighäusle
fuhren. Der Hof am Hang verfiel.
Ich wurde bald zehn und die Langeweile stülpte sich über mich
wie ein grauer, stinkender Kartoffelsack. Beim Opa war es immer noch besser als
daheim. Dort war es noch viel eintöniger. Mein Vater war Arzt. Meine Mutter,
eine Krankenschwester, die ewig krank war, half ihm in der Praxis. Die Ehe
meiner Eltern folgte dem bürgerlichen Muster von Anpassung, Unterordnung und
Leistung. Das galt auch für die Erziehung. Jeder klammerte sich an seine Rolle
und erfüllte seine Pflicht. Man hat getan, was von einem verlangt wurde. Das
Wohlverhalten wurde belohnt. Da gab es nie ein böses Wort. Auch mir gegenüber
nicht. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Eltern mich jemals
kritisiert hätten. Sie haben mich einfach nicht gesehen. Sie waren endlos mit
sich beschäftigt, mit dem neuen Haus, mit der Praxis, mit dem Rasen, der
Krankheit. Die Eltern wurden beherrscht von einer depressiven Putzwut. Vater
reinigte jeden Samstag das Auto. Mutter erledigte den Haushalt. Sie taten das
beide freudlos und mit einer sturen Perfektion. Sogar die Ruhepausen, die
Mutter wegen ihrer schwachen Gesundheit brauchte, waren genau festgelegt.
Befriedigung entstand aus dem erfolgreichen Wiederherstellen des selbstauferlegten
Sollzustands. Der Geruch von Putzmitteln war köstlicher als jedes Parfüm. Das
höchste kulturelle Gut meiner Mutter war die makellos gereinigte Toilette.
Ich kann mich nicht entsinnen, dass das etwas Bedrückendes
hatte. In meinem Elternhaus war es nicht einmal eng. Ich hatte darin nur keinen
Platz. Es war gleichgültig, ob ich in meinem Zimmer saß oder nicht. Mir selbst
war es auch gleichgültig, wo ich war, weil das, was mich ausmachte, in meinem
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