Totenkuss: Thriller
Kopf stattfand und weil mir diesen Kopf keiner nehmen konnte. Das habe ich sehr
früh begriffen, schon lange vor der Pubertät, dass ich frei und unerreichbar
war und das selbst in Gefangenschaft.
Als Grundschüler war ich nach außen hin sehr angepasst,
gleichgeschaltet und wie tot. Ich hatte keine Freunde, weil ich nachmittags
lernen musste, damit ich aufs Gymnasium kam. Alles drehte sich um Leistung und
darum, nur nicht aufzufallen. Leistung macht frei! Ein gebügelter Geist in
einem gestriegelten Körper. Zufrieden war man, wenn man sein Zimmer aufgeräumt
hatte. Ich musste alle zwei Wochen zum Friseur und durfte keine Poster von ABBA
aufhängen, weil die Sänger lange Haare trugen. Einmal habe ich auf dem
Sperrmüll eine nackte einbeinige Puppe mitgenommen, die hatte auch langes,
seidiges hellbraunes Haar. Ich habe sie in einer Turnschuhschachtel versteckt
und dort hat Mutter sie gefunden. Das habe ich Stern erzählt, und er sah mich
an mit einem Gierblick: Glänzendes Haar wie Petra? Hast du ihr auch ein Bein
abgetrennt? – Arschloch.
Meine Eltern konnten mit mir nichts anfangen. Ich passte
nicht in ihre Welt, in der alles steril und sauber war, und ich betrachtete das
Haus mit immer mehr Argwohn. Die breiten Fenster, die niedrigen Räume und die
Holzdecken deprimierten mich nicht, sie bewirkten eher eine flatternde Erregung.
Ich wusste, dass etwas passieren musste. Dieser Prozess ist schwer zu
beschreiben, weil das Misstrauen in mein Zuhause allmählich kam, wie eine
schleichende Vergiftung. Die Pubertät beendete meine Übereinkunft mit der
gefühllosen Langeweile.
Als ich zwölf war, wurde der Ort meiner Großeltern für mich
zu einer Gegenwelt, wo ich all das erproben konnte, was mir zu Hause versagt
war. Es begann damit, dass mir Josfis Hof einfiel und die Kammer. Ob man da
irgendwie hineingelangen konnte? Wie es darin wohl nach über zwei Jahren
aussah?
*
Der Totenküsser gilt unter den Untoten nicht
viel, obwohl er für die Lebenden sehr gefährlich ist. Weil er die fatale Gabe
hat, Lebensenergie aufzusaugen, gehört er zu den furchterregendsten Wesen des
Totenreichs. Das Geschlecht spielt dabei keine Rolle. Ein Totenküsser kann
männlich oder weiblich sein, die jeweilige Quote entspricht in etwa der
Geburtenrate. Die erbärmliche Wirkung ist in beiden Fällen die gleiche. Die
Teufelsbrut entsteht schon im Mutterleib durch Hexerei: aus Gemeinheit und als
Rache, oder aber wegen eines Fluchs. Ein sicheres Indiz ist ein Kind, das mit
Zähnen zur Welt kommt: Womöglich hat es die Mutter bereits von innen
angefressen. Es nützt nichts, ein solches Kind zu pfählen. Durch den Tod wird
seine Gier nicht gestillt. Auch ist es für seine Nächsten besser, wenn es noch
eine Weile am Leben bleibt. Stirbt es beizeiten, und das tun die meisten, ist
das für sein Umfeld das sichere Ende. Denn durch die gewöhnliche Erdbestattung
entwickelt der Totenküsser eine Dynamik des Unheils: Erst verspeist er mit
genüsslichem Schmatzen sein Leichentuch. Dann Hände, Arme und ganze Teile
seines Körpers, an dem er saugt und nagt, bis er ganz aufgezehrt ist; zuletzt
frisst er die Lebensenergie der Leute, die er zu Lebzeiten gekannt hat. Er
vollzieht an ihnen den finalen Leichenschmaus. Verwandte, Nachbarn, ganze
Dörfer und Städte rafft es dahin. Alle sterben an Schwäche, Krankheiten,
Epidemien. Bei einer Untersuchung stellt sich heraus, die Opfer waren bis
zuletzt medizinisch gesund und ihre Organe in Ordnung.
Die Leichenzech, die vom Grab ausgeht, zehrt an der Kraft
der Überlebenden, wobei die nächsten Verwandten am stärksten betroffen sind.
Die letzte Gewissheit darüber, ob man es mit einem Totenküsser zu tun hat,
erlangt man erst dann, wenn es zu spät ist. Beim geringsten Verdacht sollte man
deswegen vorsichtshalber folgende Regeln befolgen: Die Leiche ist auf dem Bauch
zu bestatten, mit dem Gesicht nach unten. Dann gelingt es ihr nicht, den Mund
zu öffnen und ihre Opfer zu rufen. Auch kann sie mit den Augen keine Verbindung
zum Bestatter aufnehmen. Die Augen der Leiche müssen unbedingt fest geschlossen
werden, ohne dass er sie dabei anschaut. Ebenso der Mund. Auf keinen Fall darf
der Mund mit Stoff in Berührung kommen. Noch sicherer ist es, Arme und Beine
mit einem Rosenkranz zu fesseln. Spitze Metallgegenstände wie Scheren, Nägel,
Messer, die auf die Leiche gelegt werden, können die Wirkung des Totenkusses
bannen. Auch getrocknete
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