Totenkuss: Thriller
dafür keine Zeit. Sie musste sich um ihren
Vater kümmern, der im Schorndorfer Krankenhaus lag. Nach der Untersuchung am
Mittwoch hatten sie ihn dabehalten. Seit Jahren, seit dem Krebstod der Mutter,
ging es mit Manfred abwärts. Er hatte mehrere Herzinfarkte und Hirnschläge
hinter sich. Im Kopf war er trotzdem noch rüstig, doch er sperrte sich gegen
seinen Zustand. Er wollte nicht wahrhaben, dass er mit Pflegestufe 3 nicht mehr
viel Aussicht auf eine selbstbestimmte Zukunft hatte. Im Gegenteil, er wurde
nicht mehr gesünder. Inzwischen war er Drehtürpatient in der Tagespflege; den
Rest der Zeit ging es hin und her zwischen Krankenhaus und Schlafzimmer. Er
lebte immer noch ein paar Straßen weiter in der eigenen Wohnung, konnte aber
auch nachts nicht mehr länger als fünf, sechs Stunden allein sein. Im Winter
hatte Barbara eine Pflegekraft aus Polen eingestellt, die aber nach zwei
Monaten gekündigt hatte. Seit Ostern hatte sie, abgesehen von der ambulanten
Pflegestation, die zweimal am Tag eine Schwester schickte, keine Hilfe mehr.
Nun wollte sie die Pfingstferien nutzen, um endlich einen Heimplatz für ihren
Vater zu finden. Er war bereits in drei Pflegeheimen auf der Warteliste
gestanden, aber jedesmal hatte er sich, als er an der Reihe war, geweigert
mitzukommen. Es ging nicht mehr. Sie würde wieder im Heim anklopfen müssen. Und
ihn holen und mitnehmen, mit der definitiven Drohung, dass sie ihn sonst im
Chaos ersticken ließ.
Barbara dachte etwas, das man als guter Christ mit aller
Gewalt unterdrücken musste und das in letzter Zeit immer öfter und quälender an
die Oberfläche drang: Jetzt war wegen dem Vater schon ihre Ehe in die Binsen
gegangen. Vielleicht sollte sie ihre Drohung Manfred gegenüber wahr machen und
die Zustände sich selbst überlassen, ehe noch den Kindern was passierte.
Nathan und Jorinde gingen in Bischofsweiler in die
Grundschule. Der zehnjährige Nathan war in der vierten Klasse und hatte seine
Gymnasialempfehlung in der Tasche, Jorinde war wegen ihrer Neurodermitis ein
Jahr zurückgestellt worden. Sie war deshalb mit acht noch in der Ersten und
hatte gerade halbwegs Lesen und Schreiben gelernt. Die Kinder waren entwicklungsmäßig
weit auseinander und vertrugen sich überhaupt nicht. Nathan hatte sich schon
durch den ganzen ›Herr der Ringe‹ gelesen, Jorinde schaffte gerade mal die
Kapitelüberschriften beim ›Räuber Hotzenplotz‹. Barbara fand das anstrengend.
Sie hatte sich noch ein drittes Kind gewünscht, doch nun wusste sie beim besten
Willen nicht, wie sie das auch noch hätte schaffen sollen.
Barbara Fehrle war ein strammer, pragmatischer Frauentyp. Sie
leistete viel und hielt viel aus. Aber eine Scheidung konnte sie sich beim
besten Willen nicht vorstellen. Als Fehrle vor einigen Wochen ins Nachbardorf
gezogen war, hatte sie das zunächst für eine seiner Anwandlungen gehalten, doch
nun merkte sie, er meinte es ernst. Er kam so schnell nicht zurück. Sie waren
keine Familie mehr, auch wenn er sich um die Kinder kümmerte. Er kochte für
sie, er las ihnen vor, er spielte Fußball mit ihnen und sie fuhren gemeinsam in
den Urlaub. Da Fehrle im Geschäft für die Altfälle zuständig war, hatte er
gewöhnlich normale Dienstzeiten. Das war ein seltenes Glück für einen
Polizisten und natürlich auch für seine Kinder.
Als Barbara Fehrle geheiratet hatte, war ihr nicht bewusst
gewesen, was dieser Beruf für eine Familie an Komplikationen und Erschwernissen
mit sich brachte. Dass die Ehe zerbrochen war, lag nicht allein am Vater.
Schuld war nicht zuletzt das posttraumatische Belastungssyndrom, das Fehrle
nach einem Amoklauf vor bald vier Jahren entwickelt hatte. Er hatte sich dafür
verantwortlich gefühlt, dass drei Kolleginnen dabei umgekommen
waren – erschossen im Polizeipräsidium während ihrer Dienstpflicht,
von einem psychisch kranken Ex-Soldaten aus dem ehemaligen Jugoslawien. Seitdem
plagten Fehrle Alpträume, weil er sich einredete, er hätte sie retten können.
Dabei konnte er nichts dafür. Er war dienstlich unterwegs. Seine Chefin hatte
den Einsatz angeordnet, Anita Wolkenstein, diese magersüchtige Kuh.
Timo Fehrle war ein Charakter, der sich selbst dann stur
an seine Grundüberzeugungen klammerte, wenn er sich damit Schaden zufügte.
Beispielsweise hielt er sich für einen absolut zuverlässigen Partner, der zwar
kein hundertprozentiger Familienmensch war, aber doch ein treuer Ehemann und
ein
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