Totenkuss: Thriller
einem Amulett der Schwarzen Madonna in einen
salz-und-pfeffer-farbigen Pappkoffer. Vorwärts, und nichts vergessen! Kaum war
Kafkas Fressnapf mit vegetarischem Trockenfutter gefüllt, kamen sie auch schon
mit Tatütata, checkten die Lage und brachten die geistig verwirrte Greisin ohne
zu murren mit dem Löschfahrzeug ins Kreiskrankenhaus. In der Notaufnahme wurde
sie erstversorgt, Blutdruck und Temperatur waren unauffällig. Nach einem EKG,
das ohne Befund war, wurde Rosa auf die Station eingewiesen und am nächsten
Morgen von der diensthabenden Oberärztin, einer Frau Dr. Himmelsbach, gründlich
untersucht. Ihr fehlte nichts. Ersten Ergebnissen zufolge war Rosa Fix
organisch vollkommen gesund. Trotzdem wurde ihr mehrfach Blut abgenommen, Urin-
und Stuhlproben wurden getestet, Schilddrüse, Leber und Nieren per Ultraschall
geprüft, ein Belastungs-EKG, ein Seh- und Hörtest sowie eine Hirntomografie
angeordnet. Außerdem wollte man sie, bis die Laborbefunde vorlagen, noch zur
Beobachtung dabehalten.
Das hatte ihr die junge Frau Dr. Himmelsbach, nachdem sie den
ganzen Freitag lang mutterseelenallein im wehenden Morgenmantel durch
verschiedene Stockwerke geirrt war, am Samstagmorgen auf Hochdeutsch verkündet.
Von Wartezimmer zu Wartezimmer war Rosa gestolpert, von Behandlungsraum zu
Behandlungsraum, Schläuche im Arm, Papiere in der Hand, die Urteile und
Begnadigungen enthielten. Dr. Himmelsbach hatte gelächelt. Sie war eine
Hiesige, die in Marburg studiert und seitdem für alles eine Erklärung parat
hatte. Plötzlich hatte sie den Kopf schief gelegt und gesagt: »Wissen Sie, was
ich glaube? Sie sind ein empathischer Hypochonder, Frau Fix! Wessen
Krankheitsgeschichte ist Ihnen denn so nahegegangen, dass Sie sie nun imitieren
müssen?«
Man war ihr also draufgekommen [9] .
Das war mit einem Schlag vernichtend, schlimmer als alles andere. »Der
Totenkuss«, sagte Rosa. »Er saugt die Energie aus mir raus, und das geht nun
wohl schon länger so. Ich habe die Zeichen nur nicht deuten können. Aber die
Toten flüstern, und wenn man ihren Erzählungen lauscht, erfährt man alles, was
man über ihr Leben, das zum Tod führte, wissen muss. Und so gesteht stets das
Opfer den wahren Mord, niemals der Täter.«
Dr. Himmelsbach trug in ihre Kartei ein: ›1. Stadium einer
senilen Demenz, einhergehend mit Paranoia sowie schizophrenen Zwangsgedanken.
Patientin gibt an, sie höre Stimmen.‹
Weil sie, aus Furcht vor Verlust, permanent ihre
Lesebrille trug, konnte Rosa die rundlichen Schreibschriftbuchstaben auf dem
Kopf entziffern. So eine strohriegeldumme Person aber auch. Sie zeigte der
Ärztin den Vogel und verduftete. Rosa war zufrieden, dass sie beschäftigt war
und sich endlich um ihren eigenen Dreck scheren konnte. Die Einweisung ins
Kreiskrankenhaus hatte ihrem Dasein eine neue Perspektive verliehen. Mehr durfte
man vom Leben nicht erwarten. Dabei war sie vollauf überzeugt, dass eine der
technologisch hochgerüsteten Analysen ihre finale Todesursache, deren Wirkung
mehr oder minder unmittelbar bevorstand, ans Licht zerren würde. Das war nur
logisch in dem Alter. Selber schuld, wenn es einer so genau wissen wollte. Doch
alles bewegte sich auf den Tod zu, man musste die Dinge stets vom Ende her
betrachten, um sie begreifen zu können. Wer hatte das nochmal gesagt? Karle?
Kaum. Rilke? Tiberius? Rosa hoffte nur, dass sie ihren 83. Geburtstag am
Sonntag in einer Woche noch erlebte. Dass das Familiengrab bereitstand. Dass
sie noch ein bisschen in sich hineinhorchen konnte. Dass das Ende sanft kam.
Und dass der Fall bis dahin aufgeklärt war, ohne dass sie arg viel dafür tun
musste. Auf keinen Fall wollte sie ihre Theorie kundtun, was die Motivlage des
Mantelmörders anging; schon gar nicht, ohne sie weiter zu untermauern. Tiberius
hätte es ihr niemals gestattet.
Rosa lief schnaufend den Flur entlang. Es pressierte.
Zwischen den umständlichen Untersuchungen, der Warterei und den Mahlzeiten
blieb ihr kaum Zeit, sich um den Fortgang der Ermittlungen zu kümmern, die nun
nicht mehr aufzuhalten waren, denn der Allmächtige hatte es so gewollt. Er
hatte entschieden. Von selbst hatte sie sich ja gar nicht eingemischt, als sie
zwei Jahre zuvor erfuhr, man habe die Leiche von Petra Clauss nach 22 Jahren
auf dem Stuttgarter Pragfriedhof exhumiert. Nun handelte sie in Gottes Namen.
Mit dem Aufzug fuhr sie hoch in den sechsten Stock. Das Café Sonnenschein hatte
einen
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