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Totenkuss: Thriller

Totenkuss: Thriller

Titel: Totenkuss: Thriller Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uta-Maria Heim
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zwingend
auf einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn hindeutet, hat eine Frau und zwei
Kinder und fliegt wahrscheinlich heute mit der Familie nach Thailand. Bestimmt
sitzt er schon in aller Frühe munter am Frühstückstisch, aber er wird trotzdem
nicht sagen, wie es damals ausgegangen ist. Schon Nietzsche hat ja, im Hinblick
auf das Gedächtnis, auf den Kampf zwischen Gewissen und Stolz hingewiesen, bei
dem der Stolz gewöhnlich siegt.
    Als Bauernbub kannte Fehrle die Brutalität auf dem Land, die
anders war als die städtische. Das lag an der Landwirtschaft. Der Stier
unterwirft die Kuh, der Eber die Sau, der Gockel die Henne. Zudem bildet jede
Ackerbaugesellschaft ein unkontrolliertes Patriarchat aus, weil die Körperkraft
des Mannes über das Weibsbild triumphiert. Und nur darum geht es. Das hatte
Fehrle erst kürzlich gelesen, und es hatte ihn nicht erstaunt. Die Zustände
daheim waren archaisch gewesen, da nützte auch ein Bulldog nichts. Der
Großvater regierte als Altbauer den Hof. Er befahl und schikanierte die Frauen.
Gegen seinen Jähzorn half allenfalls Kinderkriegen, das galt später auch für
die Schwiegertochter. Fehrles Mutter war gerade volljährig geworden und schon
so unter Druck, dass sie mehrere Fehlgeburten hatte, ehe Fehrle auf die Welt
kam.
    Sein Großvater war ein Tyrann gewesen, auch wenn er nicht
schlug und keine besoffenen Nazi-Lieder grölte. Da gab es keinen Spielraum,
keine Toleranz, die Oma parierte und versank hinter ihrem Gebetbuch. Der Alte
hatte die Zügel fest in der Hand, während die Eltern alleweil schaffen mussten.
Als Kleinkind hatte Timo bereits Gurken und Erdäpfel aufgelesen, bis ihm der
Rücken wehtat. Mit acht oder neun gab er als ältester Sohn schon den
Jungbauern. Morgens ging es zuerst in den Stall zum Melken, danach wurden die
schweren Milchkannen aufgeladen und an die Straße geschafft. Bis Timo den
Ranzen nahm und losrannte, hatte er schon zwei Stunden geschuftet. Da hätte die
Schule eine Erlösung sein können, doch dort hatte er es auch nicht leicht, denn
er kam von einem Aussiedlerhof. Man sagte den Aussiedlern von jeher nach, sie
seien schwachsinnig und vererbten den Schwachsinn weiter. Die Aussiedler waren
angeblich wegen Inzest aus dem Dorf gejagt worden, sie mussten auf ihren Äckern
hausen, wo sie es mit Tieren trieben, Mistlache tranken und am laufenden Band
Deppen und Mörderkinder produzierten. Fehrle, der keinen Kindergarten besucht
hatte, jedes Jahr ein Geschwisterle bekam, rülpste, furzte und den Mund beim
Kauen nicht schloss, galt vom ersten Schultag an als Vollidiot. Weil er nach
Kuhstall stank und stotterte, wurde er verhöhnt und verspottet. Er hasste die
Volksschule, die er notorisch schwänzte. Fehrle dachte an Rektor Bühler, der in
der Vierten sein Klassenlehrer gewesen war. Bühler hatte ihn regelmäßig mit dem
Lineal verdroschen oder vor die Tür gestellt. Trotzdem kam er als Auswärtiger
aufs Gymnasium. Der Fehrleshof lag auf 800 Metern Höhe, er war im Winter
manchmal eingeschneit und Timo kam tagelang kaum ins Dorf hinunter. Unterwegs
verpasste er den Schulbus, der an der Bedarfshaltestelle nur hielt, wenn man
schon dort stand und winkte. Fehrle dachte daran, wie gedemütigt er sich
gefühlt hatte, wenn er im Winter zwei Stunden zu spät kam, weil ihn der Bus
stehen lassen hatte und er die zehn Kilometer laufen musste. Keuchend und
pudelnass platzte er in den Unterricht, mit roten Backen und vor Wut und Scham
flackerndem Blick; der Lehrer warf ein Stück Kreide nach ihm, und alle lachten.
    Der Hof warf wenig ab. Nicht geschenkt hätte Timo das ganze
Gelump übernommen, obwohl es ihm als Ältestem eigentlich zustand. Der
Fehrles-Bur hatte es dem Zweitältesten geben müssen, Hans, einem verkrachten
Künstler mit einem Lotterleben. Anstatt die Geschwister auszuzahlen, blechte
Hans massenhaft Unterhalt, und er wurstelte allein vor sich hin mit seiner
Ökowirtschaft. Daraus konnte nichts werden, aber es ging besser als gedacht.
Der Vater, im Gegensatz zum dominanten Großvater ein sanftäugiger und
gutmütiger Mensch, hatte es nicht glauben wollen, als Timo nach dem Abi seinen Berufswunsch
äußerte: Kriminalbeamter. Timo sagte, er hoffe auf mehr Gerechtigkeit. Für den
Vater war mit einem Schlag sein ganzes Leben sinnlos geworden.
    Die Erniedrigungen in der Schulzeit hatten nicht dazu
geführt, dass Fehrle ein höheres Gerechtigkeitsbewusstsein entwickelte. Weil er
sich vor

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