Totenkuss: Thriller
Prügeleien ekelte, zu feige war zum Widerstand und zu stolz, um zu
petzen, wurde er allenfalls zum Außenseiter. Er kapselte sich ab und schmiedete
gemeine Rachepläne, aber deshalb ging er noch lange nicht zur Polizei. Fehrle
wurde Polizist, weil im Ort ein Mädchen verschwand, in das er verliebt gewesen
war. Petra, eine Zahnarzttochter. Für ihn unerreichbar. Er wollte Petra finden,
und er fand sie auch. 22 Jahre später. Mit Hilfe eines DNA-Abgleichs, der
ergab, dass ihre Leiche im Stuttgarter Rosensteinpark in drei Koffern
sichergestellt und unter dem falschen Namen einer polnischen Prostituierten,
als Maria Kaminski, bestattet worden war. Fehrle hatte auch den mutmaßlichen
Täter im Visier: Olaf Hahnke. Jetzt musste er ihn nur noch dazu bringen, ein
Geständnis abzulegen. Oder er musste ihn, ohne offiziell ermitteln zu dürfen,
irgendwie überführen.
Falls Irmtraud Haselbachers Aussage zutreffend war, hatte
Hahnke, selber ein Arztkind, eine Vorliebe für andere Arzt- und Zahnarztkinder,
die er quälte und verstümmelte und in den Tod trieb oder aber anleitete, selber
zu töten. Wenn es tatsächlich so war, wie Fehrle annahm, war das, was Olaf
Hahnke als Halbwüchsiger tat, überhaupt nicht normal. Es ging weit über die
üblichen Grausamkeiten hinaus. Es war kriminell und pathologisch und für einen
innerhalb der Normen denkenden und fühlenden Menschen nicht nachvollziehbar und
damit auch nicht deutbar. Man konnte es nicht allein durch die Zurückweisung
und Brutalität des Umfelds erklären, sonst hätte auch aus Fehrle ein Sadist
werden müssen. Hahnkes Sehnsüchte und Fantasien, die bestimmte Handlungsweisen
nach sich zogen, waren durch und durch zerstörerisch. Dahinter stand vermutlich
ein nagender Selbsthass, der mit dem Arztberuf des Vaters zu tun hatte. Verging
er sich deshalb auch vorzugsweise an Wehrlosen und Behinderten?
Halt!, sagte sich Fehrle und erkannte den Gedankenfehler.
Elisa Moser war kein Arztkind, sondern das Nachbarskind eines Arztes. Martin
und Petra Clauss waren Kinder eines Arztes, ebenso Ludger Sachs, der fünf Jahre
älter war als Olaf Hahnke. Als Elisa Moser verunglückte, war Hahnke 18 und er
23. Petra Clauss war schon vier Jahre tot. Ich sollte, bevor ich losfahre,
Anita Wolkenstein anrufen, dachte er. Zwar ist sie im Augenblick gar nicht mit
dem Fall befasst, aber vielleicht hat sie auf manches eine Antwort.
Empathie und Intuition, dachte Fehrle. Es wäre gescheiter,
sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. Was hat Hahnke bei Ludger Sachs
gesucht? Welche Erfahrungen hat er mit ihm in der Jugend gemacht? Ist er von
ihm missbraucht worden? Haben sie zusammen etwas ausgefressen? Gab es etwas,
womit er Sachs erpressen konnte? Lauter Spekulationen, sagte sich Fehrle. Wenn
die Spur, die zu Sachs führte, Humbug war, konnten sie von vorn anfangen. Aber
das war ja nicht gesagt. Möglicherweise hatten die Fahnder bereits Zugriff auf
Olaf Hahnke. Oder sie würden ihn bald fassen. Das brachte sie der Aufklärung
des Altfalls Petra Clauss keinen Schritt näher. Man konnte ihn schnappen und
wieder einbuchten, Hahnke schwieg weiter. Fehrle fluchte.
*
Anita Wolkenstein saß auf einer Bank auf dem
Stuttgarter Schlossplatz, machte die Augen zu und ließ sich die Sonne ins
Gesicht scheinen. Vor ihr auf dem Gras saßen Punks und sangen Gassenhauer. Die
Stadt war rappelvoll. Sich am Pfingstsamstag in der Fußgängerzone Schuhe kaufen
zu wollen, war nicht sehr originell. Aber irgendwann musste es mal sein. Man
musste sich auf dem Laufenden halten, was in diesem Sommer angesagt war. Und
Anita hatte dazu kaum Gelegenheit. Unter der Woche hatte sie keine Zeit, und
die letzten hundert Wochenenden hatte sie im Schwarzwald verbracht, auf der
Heuwies beim Hans. Seit zwei Jahren war Fehrles Bruder ihre stabile
Wochenendbeziehung, aber sie spürte, dass es so nicht mehr weiterging. Nicht
nur wegen Bonnie, die mit 13 Jahren keine Lust mehr hatte, jedes Wochenende die
Pferde zu bewegen und den Stall auszumisten. Sie blieb lieber in der Villa
Sonnenschein, der komfortablen Seniorenanlage auf dem Killesberg, wo ihre
Großmutter ihren Lebensabend durchbrachte, und übernachtete auf dem Sofa. Das
war zwar für Anita, die in der Pubertät Pferde geliebt hatte, nicht
nachvollziehbar, aber sie musste es akzeptieren. Obwohl Bonnie reiten konnte
wie der Teufel, zog sie die Gesellschaft von Elfriede Dutschke vor, Anitas
Mutter, eine der letzten
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