Totenkuss: Thriller
Gardasee treffen«, sagte Fehrle.
»Er geht mit seinen Töchtern dort campen. Alternativer Pfingsturlaub. Denn das
Ferienhaus, das ist ja belegt, verstehst du?«
Anita dämmerte es. »Wo bist du?«
»Wir sind schon bald am Brenner.«
»Du bist mit den Kindern unterwegs? Mach keinen Scheiß, Timo,
genieß deinen Urlaub. Es gibt außer dir auch noch andere fähige Polizisten.
Überlass denen, die dafür verantwortlich sind, den Zugriff.«
»Ludger Sachs wird gesucht und aufgefordert, sich zu
stellen. Mach mal das Radio an, dann hörst du’s. Die sagen natürlich nicht, wie
er heißt. Er ist ja bislang nur ein mutmaßlicher Zeuge. Aber er hat
möglicherweise Informationen über weitere Straftaten, die Olaf Hahnke begangen
hat.«
»Woher weißt du denn das alles, wenn du gar nicht mit den
Ermittlungen befasst bist? Und wieso mischst du dich ein?« Stern, dachte Anita.
Julius hat recht. Hier stinkt was zum Himmel.
»Weil ich diesen Sachs schon zum Reden bringe.«
»Wenn er erfährt, dass sie hinter ihm her sind, dann wird er
seinen Urlaub entweder abbrechen, oder er ist über alle Berge.« Anita stöhnte.
»Mein Gott, Timo, der wird doch nicht am Gardasee sitzen und warten, wenn der
Polizei sein Aufenthaltsort bekannt ist.«
»Vielleicht hat er von dem Aufruf nichts mitbekommen. Warum
soll ich nicht in Bardolino auf diesen Campingplatz gehen und zusehen, dass ich
ihn finde?«
Bardolino. Elfriede Dutschke und Bonnie wollten dort
ebenfalls ein paar Tage bleiben. Wobei sie zwar im feinsten Hotel abstiegen,
doch das war die Art von Zufällen, die Anita nicht mochte. »Du lässt deine
Kinder aus dem Spiel«, bellte sie. »Wieso hast du mich überhaupt angerufen? Du
ziehst mich damit nur in eine Sache hinein, mit der ich nichts zu tun haben will.«
»Ich meld mich wieder.«
»Timo? Jetzt warte …« Anita drückte die rote Taste und
ließ das Handy zurück in die Handtasche gleiten. Wieso hatte sie eben so
irrational reagiert? Außerdem hatte sie gelogen. Seit dem Telefonat mit dem
Kriminalpsychiater Stern hatte sich ein Zweifel in ihr festgefressen. Sie
musste sich mit der Angelegenheit befassen, ob sie wollte oder nicht. Sie
durfte sich und andere dabei nicht schonen. Auch Timo Fehrle nicht. Nur ihre
Mutter und ihre Tochter musste sie schützen, unbedingt. Fehrle nicht. Der
musste endlich zur Besinnung kommen. Anita dachte an den Amoklauf vor knapp
vier Jahren. Sie hatte angeordnet, dass das Meeting ohne verschärfte
Sicherheitskontrollen stattfand. Der Amokschütze war in das Gebäude
eingedrungen. Drei Kolleginnen waren erschossen worden. Sie hatte überlebt.
Fehrle hatte ermittelt und war nicht vor Ort gewesen. Seitdem war er
überempfindlich, richtig etepetete, nicht ganz gebacken. Er kam schwer darüber
hinweg, dass er nicht hatte eingreifen können, weil er glaubte, er hätte den
Mehrfachmord verhindert. Wieso hielt er daran fest? Weshalb weigerte er sich,
das, was geschehen war, zu akzeptieren? Woher kamen diese irrationalen
Schuldgefühle, die sich ein Polizeibeamter nicht leisten konnte? Wieso hielt er
sich für Jesus?
Anita presste die Lippen zusammen. Sie kriegte mit einem Mal
keine Luft mehr. Etwas schnürte ihr den Hals zu. Sie spürte eine Enge, wie
Fehrle sie fühlen musste, wenn er sein allergisches Asthma bekam. Anita fasste
sich an den Hals. Eine Ahnung stieg in ihr auf, so ungeheuerlich, dass sie nur
widerwillig bereit war, sie bewusst zuzulassen. Eine entsetzliche Vermutung,
die sie so lange wie möglich unterdrückt hatte. Um das Verdrängte
zurückzuhalten, war sie sogar bereit gewesen, die Liebe zu Hans zu opfern. Zwar
hatte sie keinen, nicht den geringsten Beweis. Dennoch spürte sie den grausamen
Verdacht in sich aufsteigen, dass Timo Fehrle irgendetwas mit dem Mord an Petra
Clauss zu tun gehabt hatte. Er verhielt sich von Anfang an in den Ermittlungen
extrem auffällig – impulsiv und überengagiert. War er selber in die
Sache verwickelt gewesen oder wusste er etwas, das er verschwieg? Er musste
sich der Realität stellen, auspacken. Aber was, wenn das alles zu gewaltig für
sie war? Wenn sie selbst an der Wahrheit zerbrach? Anita wusste, dass es für
sie Gründe geben könnte, sofort den Dienst zu quittieren. Weiter wusste sie
nicht.
Anita fing an zu schwitzen und zitterte. Sie stand auf und
ging wie eine Schlafwandlerin durch die Massen der Einkäufer. Dann lief sie die
Treppe hinunter zur Stadtbahn und fuhr mit der U5 zum
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