Totenkuss: Thriller
Pragsattel. Sie brauchte
genau acht Minuten. Sie hatte es eilig, denn sie musste die Akte nochmals
einsehen. Nach Lücken suchen. Fehrle hatte Anita vor zwei Jahren in Schramberg
den Tatort gezeigt. Hatte er die Stelle tatsächlich aufgrund der Fotos der
Toten gefunden, die den Ermittlern damals in die Hände gefallen waren? Anita
hatte sich nichts dabei gedacht, weil er sich in dem Waldstück auskannte. Er
hatte sich an den abgebildeten Strommast erinnert, der längst gefällt worden
war.
An der sogenannten Kofferleiche, die unbekleidet war und
sich bereits in einem fortgeschrittenen Verwesungszustand befand, waren
Stofffetzen, Schmutz, Erde, Blut, Haare und Hautpartikel sichergestellt worden.
Alles wurde in kleine Tüten gepackt und durchnummeriert. Niemand konnte etwas
damit anfangen. Nach einem Umzug blieb der Karton aus der Asservatenkammer
mitsamt Inhalt verschollen.
Petras Kleidung war verschwunden, doch der verdreckte
Lodenmantel, mit dem sie zugedeckt worden war, hatte sich in einem der drei
roten Koffer befunden. Ihn hatte das LKA nach einem weiteren DNA-Abgleich vor
zwei Jahren zunächst Dieter Clauss zugeordnet, Petras Vater. Neun Jahre nach
dem Mord, 1993, war Clauss tödlich verunfallt – in unmittelbarer Nähe
des zu dem Zeitpunkt noch immer unbekannten Tatorts. Mit Sicherheit ließ sich
die Herkunft des Mantels nicht mehr belegen, weil die Qualität der Proben
unzureichend war. Eine zweite, Monate später angefertigte Analyse, erbrachte
eine Wahrscheinlichkeit von maximal 50 Prozent. Die Frage nach dem Täter oder
den Tätern war nach wie vor offen. Wer Petra diverse Verletzungen zugefügt und
sie danach erwürgt oder erdrosselt und mit einem Mantel zugedeckt hatte, blieb
bis dato ungeklärt; und vielleicht lag es unter anderem daran, dass Fehrle, der
die Altfälle betreute und regelmäßig mit den Asservaten hantierte,
Beweismaterial unterschlagen oder manipuliert hatte. Hatte er den Karton
verschwinden lassen? Und wenn ja, warum? Weil er als 14-Jähriger dabei
mitgeholfen hatte, die drei roten Koffer, in denen die Leiche lag, nach
Stuttgart zu schaffen? Konnte das sein? Oder fang ich an zu spinnen, fragte
sich Anita, bin ich nicht mehr ganz bei Trost? Ist’s einfach nur die
Überlastung, die chronische Überforderung, die mich blind macht für das
Tatsächliche? Und stattdessen rede ich mir Dinge ein, die nicht sein können.
Vollkommen haltlosen Unfug.
Anita sah die Koffer vor sich. Sie waren rot gewesen,
kirschrot. Weithin sichtbar standen sie unter einem Baum im hinteren Teil des
Rosensteinparks. Die Ermittler hatten nie herausbekommen, wer sie dort
abgestellt hatte. Der genaue Tathergang konnte nicht rekonstruiert werden. Die
einzige verwertbare Spur lieferte die Blutgruppe: B. Sie führte zu einer
minderjährigen Prostituierten aus Polen, Maria Kaminski. Die befand sich aber
im Mai 1984 in ihrer Heimat. Monate später kam sie zurück nach Stuttgart und
nahm ihre Arbeit wieder auf. Bei einer Routineüberprüfung stellte sich heraus,
dass sie behördlicherseits inzwischen verstorben war. Maria Kaminski besuchte
auf dem Pragfriedhof ihr eigenes Grab. Die unbekannte Tote wurde exhumiert, der
Schädel vermessen, ein Zahngutachten erstellt. Weil dabei einiges durcheinander
kam, verliefen die weiteren Ermittlungen im Sand. Der Koffermord war längst in
Vergessenheit geraten, als Fehrle die alten Akten vor zwei Jahren aus dem
Heizungskeller holte. Zusammen mit Anita fuhr er nach Schramberg, als Petras
Identität feststand. Sie nahmen Anitas Dienstwagen, das war damals ein
nagelneuer Smart, innen blutrot und außen leichengrau. Timo hatte für das Auto
nur Verachtung übrig gehabt.
Anita besann sich. Ihr war bewusst, wie trügerisch das
Gedächtnis war. Wäre das Ganze ein Film gewesen, den sie vor zwei Jahren
gesehen hatte, gäbe es in ihrer Erinnerung bloß noch ein paar
Handlungsfetzen – unzusammenhängend, verfälscht und von Trugbildern
entstellt. Dialoge würde sie überhaupt nicht mehr rekonstruieren können. Doch
die Szene, die sie die ganze Zeit verdrängt hatte, stand ihr mit einem Mal klar
vor Augen. Sie entsann sich, wie Fehrle auf der Fahrt in den Schwarzwald
reagiert hatte, als sie ihm den hinlänglich bekannten Tathergang beschrieb,
soweit er halt gesichert war: »Das Mädchen wurde vom Täter mit den Händen
erwürgt«, hatte sie gesagt. »Das heißt, er drückte ihr den Hals zu. Sie
stürzte. Dann setzte er sich auf
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