Totenkuss: Thriller
wir sollten rübergehen, Mama.«
»Also, kann ich jetzt bitte telefonieren?« Hermann fühlte
eine flirrende Ungeduld, die rasch in ihm aufstieg. Sie ließ seine Schultern
beben und erhitzte seinen Kopf. »Antonio Santoni hat ein Gewehr. Das brauchen
wir vielleicht bald, und falls Hahnke tatsächlich keine Waffe hat, bringt es
uns den entscheidenden Vorteil.«
*
Die
Dutschke drückte die Start-Taste und hörte Nirvana unplugged. »Spring is here
again, tender age in bloom, he knows not what it means, sell the kids for food,
we can have some more«, sang Kurt Cobain. »Take your time, hurry up, the choice
is yours, don’t be late.«
»Hör zu, Oma«, sagte Bonnie und klaute ihr die Ohrstöpsel.
»Wir sind nicht in Bardolino, um im Hotelzimmer zu hocken. Am Samstagabend ist
Fiesta angesagt, und ich möchte mit dir shoppen gehen und Tintenfischringe
essen.«
Die Reise war sehr schweigsam verlaufen. Die achtstündige
Zugfahrt hatten sie mit Lesen zugebracht. Die Dutschke hatte über den Spruch
sinniert, der den Speisewagen unbetretbar machte: ›Alkohol in Massen zu
genießen.‹ Sie beschloss, eine Gesellschaft zur Errettung des Scharf-S zu
gründen und vertiefte sich in das Manuskript, an dem sie arbeitete. Da es
bestimmt ihr letzter Gedichtband war und sie den Nachlass schon ans
zukunftsfähige Deutsche Literaturarchiv Lauffen am Neckar verkauft hatte,
machte sie am Rand großzügig Notizen. Das Gekritzel steigerte die Höhe der
Rente. Je mehr sie herumschmierte, desto gewichtiger wog der Wert der Poesie.
Mit reichlich Bleistiftstrichen finanzierte sie womöglich ein Pflegebett.
Bonnie überflog ihr Vokabelheft, ehe sie sich dem bürgerlichen Parlamentarismus
widmete sowie der Frage, wie man Sprengsätze herstellt. Nach den Ferien waren
Tests und Arbeiten angesagt in Französisch, Geschichte und Physik, was
schließlich viel mit Chemie zu tun hatte.
Die brachiale Bergwelt flog an ihnen vorüber, und wortlos
schauten sie den Naturfilm an. Von Stuttgart fuhren sie durch bis nach Verona,
wo sie am Nachmittag ankamen, und von dort ging es weiter mit dem Taxi zum
Garda-Hotel ›Neuer Ausblick‹, das einem Mortadellafabrikanten gehört hatte,
seit den Anfängen der RAF jedoch fest in deutscher Hand war. In den siebziger
Jahren wurde dort politischen Umsteigern ein Kuraufenthalt ermöglicht. Auf
Zimmer drei war irgendwann in den Neunzigern Elfriedes Freund Traube gestorben,
umringt von bildschönen ehemaligen Genossinnen. Traube, ein charismatischer,
herzkranker Germanistikprofessor, hatte in Nemi, einem verwinkelten Nest südöstlich
von Rom, zusammen mit der keimenden Toskanafraktion die ›Soccorso Rosso‹
gegründet – eine Liga, die es sich auf ihre roten Fahnen schrieb,
Luftkurorte für Aussteiger zu finden. Pensionen und Sanatorien wurden eröffnet,
und als Krönung das feudale Garda-Hotel in Bardolino.
Der ›Neue Ausblick‹ ging direkt hinüber zum See. Davor lag
die Strandpromenade mit dem blauen Kinderklauer-Schild: Ein weißer Hutträger
zerrte an einem kleinen Mädchen. Fußgängerzone. Bonnie öffnete das Fenster.
Herein wehte eine italienische Brise, die Lärmfetzen hereintrug und eine stark
erhöhte Luftfeuchtigkeit. Es schiffte. Patschnasse Kinder fuhren schreiend auf
Kettenfahrzeugen, Mütter riefen, Möwen kreischten und irgendwo brüllten ein
paar bekloppte Wasservögel.
»Hast du denn deiner Freundin Lucy schon angerufen?«
»Sie hat ihr Handy nicht an.«
»Ah!« Elfriede Dutschke versuchte, den lauernden Unterton zu
unterdrücken. Sie hatte ihrer Enkelin kein Wort von dem erzählt, was Anita ihr
berichtet hatte. Ludger Sachs würde, sobald man ihn ausfindig machte,
festgesetzt. Campingplätze und Strände am Gardasee waren voller verdeckter
Ermittler. Timo Fehrle war ebenfalls auf dem Weg nach Bardolino und wollte der
hiesigen Polizei zuvorkommen. Er erhoffte sich von einem Treffen mit Sachs wichtige
Erkenntnisse, die dazu beitrugen, Olaf Hahnke in der Mordsache Petra Clauss
endlich zu überführen. Elfriede sollte alles tun, um sich und Bonnie aus der
Schusslinie zu halten. Ludger sei zwar bislang nur ein wichtiger Zeuge, aber
man könne nicht voraussehen, was passieren werde. Möglicherweise komme es zu
einer Verfolgungsjagd und einem Schusswechsel. Die Dutschke wunderte sich, wie
jung und naiv ihre Tochter war. ›Aber Kindchen‹, hatte sie zu Anita gesagt,
›Ludger Sachs wird Bardolino meiden wie der Teufel das
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