Totenmesse
»Sie könnten alles Mögliche sagen.«
»In einer Gruppe wie dieser sollte es jemanden geben, der Russisch kann«, sagte Andreas Becker. »Aber Alexander spricht Englisch, keine Sorge.«
Hjelm gab ihm das Handy zurück, und Becker wählte die Nummer. »Alexander«, tönte es laut zurück. Vermutlich war die Lautsprecherfunktion eingeschaltet.
»Hello, Alexander, itâs Andreas Becker.«
»Iâve been waiting all night«, sagte das Telefon.
»Ich weië, sagte Becker. »Es hat sich etwas hingezogen. Kannst du zu der alten Walzenmühle gehen? Kommst du da so spät noch rein?«
»Auf meine Art schon«, sagte Alexander. »Es ist ja eine Art Museum. Ich brauche zehn Minuten. Ruf mich wieder an.«
Becker legte auf. Hjelm und Holm tauschten einen Blick. »Eigentlich wissen wir gar nicht, wen und wo Sie anrufen«, sagte Paul Hjelm. »Es kann ein Trick sein.«
»Manchmal muss man seinen Mitmenschen einfach vertrauen«, sagte Andreas Becker.
»Sind Sie ein Mitmensch?«, fragte Hjelm.
»Gute Frage«, sagte Becker ernst. »Aber hier ist die Nummer. Landesvorwahl Russland, Ortsvorwahl Wolgograd.«
Erreichte Holm das Mobiltelefon. Holm gab es an Chavez weiter, der zum Laptop auf dem Katheder ging und zu tippen begann.
»Stimmt«, sagte er nach einer Weile. »Russland, Wolgograd und ein Alexander Maltsev.«
»Maltsev?«, sagte Norlander. »Der Hockeyspieler?«
»Genau der«, sagte Andreas Becker beiläufig.
»Die DDR ist nie eine besonders gute Eishockeynation gewesen«, sagte Norlander.»Da war mit Doping wohl nichts zu machen.«
Chavez gab das Handy zurück, und Becker rief eine andere Nummer an. »Alexanders Mobiltelefon«, erklärte er, während es klingelte.
»Ja, ich bin drin«, sagte dieselbe Stimme wie zehn Minuten vorher.
»Du musst in den ersten Stock«, sagte Becker. »In den dritten Raum auf der linken Seite, von der Front her gesehen.«
»Einen Augenblick«, sagte Alexander Maltsev, verschwand für einige Minuten und war dann ein wenig atemlos wieder da: »Okay, das muss dieses Zimmer sein. Es ist voll mit Gerümpel. Warte eine Sekunde. Ja, jetzt bin ich drin. Staub und Dreck.«
»Wenn ich es richtig verstehe, musst du an der Wand links von der Tür ein paar Meter in den Raum gehen. Ein Meter über dem FuÃboden. Ist da irgendein Spalt?«
»Nein«, sagte Alexander. »Warte.«
Sie warteten. Die ganze Kampfleitzentrale wartete.
»Irgendeinen Spalt gibt es immer«, sagte Becker mit einem in sich gekehrten Lächeln.
»Spionensprüche«, sagte Alexander. »Doch, hier ist tatsächlich ein kleiner Spalt in der Wand, wenn man genau hinsieht. Warte mal.«
Paul Hjelm versuchte sich eine Art von Schema vorzustellen, das darstellte, wohin die Gedanken all der Menschen in der Kampfleitzentrale gingen. Wie weit die Grenzen der Gedanken hinausgeschoben waren.
»Hier liegt ein Buch«, sagte Alexander. »Sieht aus wie ein altes Notizbuch.«
»Wie sieht der Umschlag aus?«, fragte Becker und strich über den Umschlag des alten Tagebuchs.
»Alter brauner Wachstuchumschlag«, sagte Alexander. »Ich schlag es mal auf.«
»Ja«, sagte Andreas Becker und schloss die Augen. »Jetzt ist es so weit.«
Es war eine Weile still.
Vollkommen still.
Als hielte die Welt den Atem an.
Dann sagte Alexander Maltsev in Wolgograd: »Jemand hat die Seiten herausgerissen.«
Andreas Becker öffnete die Augen, stand auf und sagte: »Wieso?«
»Es sind keine Seiten mehr drin«, sagte Alexander. »Anscheinend aufgeraucht.«
»Aufgeraucht?«
»Fast alles Papier, das man in Stalingrad kriegen konnte, wurde aufgeraucht. Man drehte aus jeder Art von Papier Zigaretten.«
»Ãberhaupt keine Seiten?«, sagte Andreas Becker und sank sehr, sehr langsam auf seinen Platz in der Kampfleitzentrale nieder.
»Von der letzten Seite ist ein bisschen übrig geblieben«, sagte Alexander in Wolgograd. »Da steht was. Warte.«
Sie warteten.
»Da steht âºMaxim Kuvaldin und Hans Eichelbergerâ¹.«
»Mehr nicht?«
»Nein, das ist alles«, sagte Alexander.
Andreas Becker schaltete das Handy aus und sackte in sich zusammen. »Sie haben es aufgeraucht«, sagte er. »Die Soldaten in Stalingrad haben die Formeln für unsere Zukunft aufgeraucht.«
Es gab nicht
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