Totenmond
verschlungen zu werden. Ein Streifenpolizist in neongelber Signaljacke stellte sich ihr in den Weg. Er schwenkte eine rote Haltekelle, winkte Alex aber durch, nachdem er sie erkannt hatte, und deutete in Richtung Hauptgebäude, wo einige Streifenwagen und zivile Fahrzeuge parkten.
Der zentrale Bau der Fabrik war zur Hälfte eingestürzt. Alex sah zerplatze Fenster, zerborstene Wände und die verkohlten Balken der Dachkonstruktion, die wie die Rippen eines auf dem Rücken liegenden Brandopfers in den schmutzig grauen Himmel stachen. Aus einigen der noch intakten Verglasungen des Erdgeschosses strahlte gleißendes Licht. Es musste von den Scheinwerfern der Spurensicherung stammen.
Alex brachte den Mini zum Stehen, setzte die Strickmütze auf und griff vom Beifahrersitz nach der neuen Umhängetasche, die sie sich selbst zum Nikolaustag geschenkt hatte. Sie war aus grauen Wolldecken gefertigt und trug ein aufgenähtes Schweizer Kreuz als Eyecatcher. Dann glitt Alex in die Handschuhe und zog den Reißverschluss der gefütterten Lederjacke bis oben zu. Im Aussteigen hängte sie sich die Tasche um und kam kurz darauf an einer grünlichen Stahltür zum Stehen, vor der Schneider rauchend wartete. Der Qualm vermischte sich mit der weißen Fahne seines Atems. Mit einem Blick auf Alex’ Tasche nuschelte er: »Ah, das Rote Kreuz. Na hoffentlich haste einiges an hochherrschaftlichen Pflastern in deinem Notarztbeutel dabei, Frau Doktor.«
Hochherrschaftlich. Ständig diese Anspielungen auf den Titel in ihrem Namen. Alexandra von Stietencron. Sie war schon als Kind genug damit gehänselt worden. Und dieses blöde Frau Doktor – bloß, weil sie Psychologin war und auch ein paar Semester Medizin studiert hatte. Ihr wäre lieber, wenn Rolf ab und zu mal Frau Kommissarin sagen würde. Schließlich hatte sie sich diesen Titel mit Abschluss an der BKA-Akademie und einer ordentlichen Polizeiausbildung mehr als verdient.
Alex öffnete den Mund, schluckte dann aber runter, was sie hatte antworten wollen, und entgegnete lediglich ein trockenes: »Hallo, Rolf.«
Schneider nickte knapp. »Du humpelst.«
»Blitzmerker«, antwortete Alex. Schneider brummte. Dann führte er sie nach drinnen.
In der geräumigen Halle, in der früher die Maschinen gestanden haben mussten, war es trotz der Scheinwerfer der Spurensicherung kaum wärmer als draußen. Das grelle Licht verlieh der Szenerie etwas Unwirkliches. Alex fröstelte. Sie sah die dunklen, gefrorenen Pfützen. Ihr Blick wanderte zu einem der Kriminaltechniker, der in seinem weißen Overall wie ein Gebirgsjäger in Schneetarn aussah. Er hantierte an einem Stativ herum. Darauf war etwas befestigt, das auf den ersten Blick einem Akkuschrauber glich.
»Neues Spielzeug«, erklärte Schneider mit einer Geste zum Stativ, drückte die Zigarette an einer Wand aus und ließ die Kippe in der Jacke verschwinden. »Spherocam High Dynamic Range für die fotorealistische Dokumentation. Die Kamera zeichnet in einem Winkel von 360 Grad horizontal und 180 Grad vertikal auf. Das System lässt hinterher jeden nur erdenklichen Betrachtungswinkel zu. Du kannst dich wie in einem virtuellen Raum bewegen – ganz großes Kino.«
»Aha«, entgegnete Alex und betrachtete einen Metalltisch, der geradezu in Blut getaucht worden zu sein schien. Schwarz und glänzend reflektierte seine kristallisierte Oberfläche das Licht der Scheinwerfer. An den Tischbeinen war das Blut in langen Schlieren herabgelaufen. Dort befanden sich auch Reste von Klebestreifen. Alex presste die von der Kälte aufgesprungenen Lippen aufeinander, als sie sich vorstellte, was auf diesem Metalltisch geschehen sein musste. Ohne die Augen abzuwenden fragte sie Schneider: »Wo ist …«
»Die Leiche ist nicht hier«, sagte Schneider. Er deutete mit dem Kopf nach rechts in Richtung einer weit offen stehenden Schiebetür, aus der ebenfalls Scheinwerferlicht fiel, das die langen Schatten von zwei Männern auf den Boden warf. »Sie ist nebenan bei Reineking und Kowarsch.« Schneider hielt inne, verzog das Gesicht und kratzte sich das unrasierte Kinn. »Ein paar Jungs haben die Leiche heute Nachmittag entdeckt. Sind jetzt für Zeugenaussagen auf der Wache. Ziemlich durch den Wind, die drei. Und leider haben sie uns den Tatort versaut.« Dann sah er Alex an. »Bereit, dir das Weihnachtsfest zu verderben?«
Alex ließ die Hände in den Jackentaschen verschwinden und knibbelte mit dem Daumen nervös an der Ecke des zusammengefalteten
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