Totenmond
an ihrem über das Kinn hochgezogenen Schal und atmete tief ein, als Schneider die Klingel drückte, worauf ein sanfter Gong aus dem Inneren ertönte. Sie fühlte sich, als hätte sie den ganzen Tag lang noch keinen Bissen, stattdessen aber fünf Liter Kaffee zu sich genommen. Dann ging die Tür auf.
Alex blickte in das noch ahnungslose schmale Gesicht einer großen und schlanken Frau. Sie trug eine Hausjacke aus rotem Mohair, über der ein abstraktes Medaillon an einer Goldkette baumelte. Unter dem dunklen Pagenschnitt musterten grüne Augen die Besucher.
»Ja, bitte?«, hörte Alex die leise Stimme.
Abwartend hob Hilde an Huef die fein gezupften Augenbrauen und schaute zwischen Schneider und Alex hin und her, bis sich Alex schließlich ein Herz nahm und sagte: »Mein Name ist Alexandra von Stietencron, und das ist mein Kollege Rolf Schneider. Wir sind von der Kriminalpolizei und müssen Ihnen leider eine sehr schlimme Mitteilung machen.«
10.
H ilde an Huef hatte die Nachricht vom Tod ihrer Tochter stoisch aufgenommen. Wie die Frau eines Soldaten, dachte Alex, die sich mit dem Gedanken hatte abfinden müssen, dass jederzeit ein dunkler Wagen vorfahren könnte und ihr gesagt würde, dass ihr Mann in irgendeinem fremden Land gefallen war. Auch jetzt noch, nachdem Alex in klaren Worten, wenn auch ohne Details zu nennen, berichtet hatte, was vermutlich mit ihrer Tochter geschehen war, saß Hilde an Huef in dem schweren Sofa gefasst und mit im Schoß gefalteten Händen.
»Darf … darf ich Ihnen etwas anbieten?«, fragte sie leise. »Ich habe eben einen Tee aufgesetzt.«
Schneider hob die Augenbrauen und murmelte ein »Danke, nein«, während Alex ein »Gerne« hervorbrachte.
Hilde an Huef nickte, stand langsam auf und strich sich ihren Rock zurecht. Dann machte sie Anstalten, um den Wohnzimmertisch herumzugehen, und strauchelte wie an einem unsichtbaren Hindernis. Gerade noch schaffte sie es, die Lehne eines Esszimmerstuhls zu fassen, um nicht den Halt zu verlieren, und brach schluchzend in Tränen aus.
Schneider wollte vom Sofa aufstehen und der Frau zu Hilfe zu kommen, aber Alex legte ihm mit einem Kopfschütteln die Hand auf den Oberschenkel. Hilde an Huef war keine Frau, die es zulassen würde, sich von Wildfremden in den Arm nehmen und trösten zu lassen.
Schon hatte sie sich wieder gefasst. Ihr Körper gewann an Spannung, und sie wischte sich mit der Handfläche über die Augen, wobei sie darauf achtete, den Polizisten den Rücken zuzukehren. Dann sagte sie kaum lauter als das Ticken der großen Standuhr, die unter den vielen anderen Antiquitäten das Wohnzimmer dominierte: »Wissen Sie, wie mein Mann Antje immer genannt hat? Meine kleine Mondfee.« Mit einem gequälten Lachen, das mehr wie ein Stoßseufzer klang, drehte sie sich um.
Alex nahm das Lächeln auf. »Das ist sehr schön. Verraten Sie mir, warum Mondfee ihr Spitzname war?«
»Ach«, winkte Hilde an Huef mit ihren zitternden, schmalen Händen ab. »Das war so eine Marotte von den beiden. Ernst hatte ein Faible für Astronomie, und er hat mit Antje Traumreisen zu den Sternen erfunden …« Sie brach mitten im Satz ab, zog den Stuhl etwas zurück und setzte sich. Ihr Blick verlor sich in der Ferne.
Alex verschränkte die Hände ineinander und ließ ihre Augen über die teuren Möbelstücke gleiten, auf denen Fotos in edlen Rahmen standen.
»Wissen Sie«, fuhr die Frau fort und stützte den Kopf auf, »als Sie eben geschellt haben, da dachte ich … Ich dachte, es ist Antje, die zum Tee vorbeikommt, und dass sie wieder mal ihren Hausschlüssel vergessen hätte. Es ist so eine Angewohnheit von ihr …« Wieder wischte sie sich durch die Augen und korrigierte sich. »Verzeihen Sie, es war so eine Angewohnheit von ihr.«
Dann brach Schneider sein Schweigen. »Es tut mir wirklich leid, Frau an Huef, aber ich fürchte, wir werden Ihnen noch ein paar Fragen stellen müssen. Hatte Ihre Tochter einen Lebensgefährten? Gibt es Ex-Freunde, von denen sie sich im Streit getrennt hat? Wo hat sie zuletzt gewohnt, und wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit ihr?«
Hilde an Huef schüttelte den Kopf. »Antje hatte keinen Freund, was ich nie verstanden habe. Sie war so ein hübsches Mädchen, lebenslustig. Ich vermute, es hat an ihrem Beruf als Krankenpflegerin und ihren Wechselschichten gelegen, dass sie einfach nicht die Zeit und Gelegenheit dazu hatte, jemanden kennenzulernen. Ich habe zuletzt Anfang der Woche mit ihr telefoniert. Sie hat eine kleine
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