Totenmond
»Es ist normal, dass du sauer auf ihn bist. Das ist gekränkte Eitelkeit.«
»Also bitte«, fiel Helen Alex ins Wort und legte ihre Pizza auf den Pappteller. »Eitelkeit? Ich und eitel? Und dieser Mistkerl ist das absolute Gegenteil von eitel. Ich wünschte, er wäre mal ein wenig eitel gewesen, statt seine Nasenhaare so lang wachsen zu lassen, dass man ihm einen Bauernzopf hätte flechten können, Schneewittchen!«
Alex schmunzelte und verdrehte kurz die Augen.
Schneewittchen.
Seit sie sich auf der Polizeiakademie kennengelernt und schnell Freundschaft geschlossen hatten, nannte Helen Alex in Anspielung auf ihr Aussehen so. Schwarze Haare, kirschroter Mund, blasse Haut. In diesem Moment kam sie sich in der Tat vor wie eine ungeküsste Prinzessin im Dauerschlaf. Hier saß sie nun an einem mit Ketchup und Fanta beschmierten Klapptisch und dokterte an der gescheiterten Beziehung ihrer besten Freundin rum. Immerhin hatte Helen schon ein Kind und bald eine Ehe hinter sich. Und was hatte Alex? In Kürze ihren dreiunddreißigsten Geburtstag, eine dicke Katze, die Hannibal hieß, und einen angesehenen Düsseldorfer Anwalt zum Vater, der es ihr gegenüber mittlerweile aufgegeben hatte, von Enkelkindern zu sprechen, und die Kleine seiner zweiten Tochter Jule demonstrativ mit Geschenken und Bausparverträgen überhäufte. Alex hatte nicht einmal jemanden, mit dem sie Weihnachten verbringen konnte – und damit keine Ausrede, um an Heiligabend dem familiären Overkill bei ihren Eltern zu entgehen.
»Ich meine doch nicht diese Art von Eitelkeit«, sagte Alex und tastete ihr Gelenk ab. »Es ist die Ego-Kränkung. Aber es ist gut, sauer auf ihn zu sein, und ja, er ist ein Dreckskerl, der nie begriffen hat, was er an dir hat, und er soll mit seiner dummen Pissnelke glücklich werden oder auch nicht.«
Helen blickte Alex einen Moment lang fragend an. Dann brach sie in ihr lautes, etwas ordinäres Lachen aus. »Pissnelke«, wiederholte Helen, wackelte mit dem Kopf und ließ sich das Wort auf der Zunge zergehen. »Gar nicht schlecht.« Sie blickte auf Alex’ Knöchel und tippte einmal vorsichtig mit der Fingerspitze drauf. »Solltest du damit nicht langsam mal zum Arzt gehen?«
»Halb so wild.« Alex winkte ab. In ihrer aktiven Zeit als Triathletin hatte sie oft genug mit Verletzungen zu tun gehabt, um zu wissen, dass man sich von einem verknacksten Knöchel nicht davon abhalten lassen durfte, zum Ziel zu kommen. Dann verfinsterten sich Alex’ Gedanken und wanderten zurück zu dem Probeeinsatz am Kemper-Gymnasium. Versagt hatte sie in den Augen der anderen, obwohl sie doch das einzig Richtige in der Situation getan hatte. Aber darauf kam es offenbar nicht an. Es kam darauf an zu funktionieren. Wie ein Rad im Getriebe. In gewisser Weise war die Übung an der Schule symptomatisch für ihr Leben: Ganz allein auf sich gestellt, hatte sie ihr Ding durchgezogen und Erfolg damit gehabt – aber niemand hatte es anerkannt.
Unvermittelt fragte Helen: »Was machen eigentlich deine Männer?«
»Bitte?«
»Entschuldigung, ich frage ja bloß. Ich meine, schau dich an: Du bist bildhübsch, ich würde umfallen, wenn ich ein Mann wäre und mit dir arbeiten müsste. Du bist intelligent, einfühlsam, zehnmal so ordentlich wie ich und hast auch noch einen stinkreichen Vater.« Helen machte eine Pause und sah ein paar Kindern hinterher, die kreischend mit Gokarts an ihnen vorbeifuhren.
Die Antwort war einfach: Es war noch nicht der Richtige dabei gewesen. Außerdem nahm ihr Job sie vollends ein, nachdem ihr zuvor das Studium und die Ausbildung alles abverlangt hatten. Und davor hatte es Benji gegeben. Benjamin. Damals, als Alex siebzehn war, hatte ein Unbekannter ihre erste große Liebe auf dem Parkplatz einer Disco erstochen. Benji war in Alex’ Armen verblutet. Manchmal klaffte die Erinnerung daran noch wie eine offene Wunde.
Alex zuckte mit den Schultern. »Du weißt genau, dass meine Stelle in Lemfeld befristet ist, ein auf drei Jahre festgeschriebenes Pilotprojekt, und es ist meine große Chance. Ich darf das nicht vergeigen, und gerade habe ich bei der Übung angeblich Mist gebaut, da kann ich mir keinen weiteren Patzer leisten.«
»Was hat denn ein Kerl mit Patzern zu tun?«
»Ich will mich nicht ablenken lassen.«
»Es gibt mehr als die Arbeit im Leben.«
Alex zuckte mit den Schultern.
Helen machte eine abschneidende Geste. »Jeder macht Fehler, nur dass du dir keine erlauben willst. Du meinst immer noch, du müsstest
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