Totenmond
Probleme. Kein Wunder, er ist ja eine Puppe. Harald verzweifelt daran. Er will Aufmerksamkeit. Stattdessen erntet er Schläge und Misshandlungen. Ihn prägt die große Musiksammlung seines Vaters. Ihn prägt ebenfalls die Geschichte von den Leopardenmenschen, die er in den Comics liest. Wenn er sich wie die Menschen in dem Heft in einen Leoparden verwandeln könnte, müsste er kein Leid mehr erfahren, denkt er sich. Und deswegen wird der Mond für ihn so wichtig – weil er hofft, vom Mond in dieses stärkere Etwas verwandelt zu werden.«
»Was für eine Scheiße«, knurrte Schneider und stellte die Lüftung etwas stärker ein, weil die Windschutzscheibe zu beschlagen begann.
»Der Junge foltert Tiere, weil er wissen will, ob er so etwas wie Gefühle empfinden kann, Empathie – etwas, das seine Eltern ihm nicht vermitteln. Und tatsächlich stellt er fest, dass er bei seinen Taten etwas wahrnimmt – allerdings nicht das, was er gesucht hat. Kein Mitleid, keine Liebe oder Zuneigung. Er empfindet hingegen Befriedigung. Lust. Freude. Eines Tages beschließt er, sich von Mäxchen zu befreien. Es ist eine helle Vollmondnacht, in der sich seine Wut an der Puppe entlädt. Frau Frentzen hat von Schnitten an der Puppe gesprochen. Harald hat vielleicht da schon die Tatzenhiebe imitiert.«
»Okay«, sagte Schneider. »Nach der Krankenhaussache wird er aus der Familie genommen. Schließlich sein Name geändert. Ich kann mir aber kaum vorstellen, dass er danach nicht mehr auffällig geworden ist.«
»Vielleicht hat er gelernt, vorsichtig zu sein, sich zu verstecken. Wie ein Raubtier bei der Jagd. In jedem Fall werden ihn die Leopardengesellschaft und Themen wie Verwandlung und Verletzung weiter fasziniert haben. Und irgendwo wird er irgendwann irgendwie eine Möglichkeit gefunden haben, seinen Neigungen nachzugehen.«
»Zum Beispiel in Ruanda, Nicaragua, Peru, an der Elfenbeinküste und in Tansania. Oder wo beispielsweise dieser höchst suspekte Heimpädagoge Potthast sonst noch war«, fiel Schneider ihr ins Wort. »Die Opfer an der Elfenbeinküste waren zudem Frauen, die Waisenkindern geholfen haben, oder junge Prostituierte. Das passt ins Schema.«
Alex dachte darüber nach, dass ihr Arzt Dr. Pfeiffer ebenfalls in Afrika gewesen war. Wie viele Menschen. Es gab kaum eine Kirchengemeinde, die dort nicht Hilfsprojekte unterhielt. Dennoch konnte das eine Spur sein.
Sie sagte: »Es wäre in der Tat denkbar, dass er gezielt über kirchliche Verbindungen ins Ausland ging, um sich dort ausleben zu können. Es würde mich nicht wundern, wenn sich eine Blutspur auch durch andere Länder zieht.«
Schneider starrte stumm auf die Scheibenwischer, die gegen das immer heftiger werdende Schneetreiben ankämpften. »Und dann findet er heraus, dass er einen Bruder hat, der in Lemfeld lebt – Elmar Hankemeier, der in U-Haft sitzt und von alledem keinen Schimmer hat. Oder er lügt.«
»Ja«, seufzte Alex und runzelte nachdenklich die Stirn. Ein Bruder. Ein Alter Ego. Jemand, der es besser getroffen hatte als er. Überall in der Stadt waren die Baugerüste der Firma Hankemeier zu sehen. Das Geschäft lief demnach fabelhaft. »Harald muss irgendwie von einem Bruder erfahren haben. Er hat recherchiert und kam nach Lemfeld, weil er hier seinen Bruder fand. Er hat ihn beobachtet, gesehen, dass er sich ganz anders entwickelt hat. Harald erfuhr von Hankemeiers obsessiver Sucht nach Frauen, die ein ähnliches Schicksal erlitten haben wie er selbst. Harald beobachtet das im Stillen, verfeinert seine Methoden, benutzt den Bruder als Köder und er erwählt die Frauen als Opfer – allerdings frage ich mich nach dem Grund. Außerdem müsste es doch einen persönlichen Kontakt zwischen beiden gegeben haben. Einem lang vermissten Bruder würde man sich doch als Verwandter offenbaren.«
»Und Mia?«, fragte Schneider.
Die Frage vereiste Alex’ Herz. »Der Täter sieht in mir wohl eine Gegnerin. Ich habe keine Ahnung, warum er mich ausgesucht hat.« Alex dachte an ihr Gespräch in Düsseldorf mit ihrem Mentor Stemmle. »Er hat Mia entführt, um mich zu sich zu locken. Er will prüfen, ob ich mich mit ihm messen kann. Und wenn ich würdig bin, will er, dass ich sein Treiben beende und ihn aus dem Verkehr ziehe.«
»Und wenn du verlierst?«
Alex blickte betreten in den Fußraum. »Wenn ich verliere, dann verliere ich alles. Und er triumphiert ein letztes Mal.«
»Wo könnte Mia sein?«
»Ich weiß es nicht. Wenn tatsächlich Potthast der
Weitere Kostenlose Bücher